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-SUOMALAISEN TIEDRAKATEMIAN TOIMITUKSIA
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Sisällys. — Index.
N:o 1. J.E. SALOMAA. Das Problem der Wahrheit. N:o 2. K.S. LAURILA. La tlı&orie du comique de M. Henri Bergson. N:o 3. NIILO LEHMUSKOSKI. De aliectivi attributi Plautini collocatione.
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SUOMALAISEN TIEDEAKATEMIAN TOIMITUKSIA. SARJA B, NID. XXIII. N:o 1.
ANNALES ACADEMLE SCIENTIARUM FENNIGE. SER. B, TOM. XXIII. N:o 1.
DAS PROBLEM DER WAHRHEIT
VON
J. E. SALOMAA
HELSINKI 1929
Digitizeg „Google “
INHALTSVERZEICHNIS.
Erster Abschnitt.
Der Begriff der Wahrheit. Seite le Einleitung sun ns ae wenns 5 Il. Die Transzendenz der Wahrheit „son sen eeeeeeeeenenneee nennen 7 Die Transzendenz der Wahrheit S. 7. Die Identitätsauf- fassung von Denken und Sein S. 11. Die Abbildtheorie S. 13. Die Übereinstimmungstheorie S. 17.
Ill. Das Absolute im Wahrheüsbegriff „once eeceeesseeseeeeenennen 23 Die Fragestellung S. 23. Der relative Wahrheitsbegriff S. 23. Die absolute Wahrheit S. 32.
IV. Die Inhaltlichkeü der Wahrheit ....22cceeneeeeeene nee 33
Vs. „Die Wahrheit -0n. Sich zusehen nee 39
Die erkannte Wahrheit und die Wahrheit an sich S. -39. Die Wahrheit und ihr Gegenstand S. 42. Der Begriff der Wirklichkeit S. 44. Die Unwirklichkeit S. 49. Der Begriff des Seins S. 50. Die Wahrheit an sich S. 53. Zweiter Abschnitt. Die Erkenntnis der Wahrheit. l. Vorbereitende Bemerkung, .....22eseeeeeennoneeneeneennen nee nenn 62 11: Uber di: Urteile sans een 63 IH. Die Kriterien der Wahrheit ...oecuneeeneennesenenernen en neenn NM Die Wahrheit und ihre Kriterien S. 91. Die Evidenz S. 92. Rickerts ‚‚transzendentes Sollen” S. 100. Die Verifikation S. 102. Die Denknotwendigkeit S. 108.
IV ...Dieinduktwe. Methode. an. u 139
Das Wesen der Induktion S. 139. Die Empfindungen S. 145. Das Gedächtnis S. 149. Die innere Anschauung S. 151.
. Der allgemeine Charakter des Erkennens ...eescueeeeeeenernenn 165
Erster Abschnitt. Der Begriff der Wahrheit.
I. Einleitung.
Unter den Problemen der Philosophie tritt als beharrlichstes und zentralstes das Wahrheitsproblem hervor. Dieses Problem, in des Wortes voller und weiter Bedeutung genommen, schliesst richtig- genommen auch die anderen philosophischen Probleme ein. Das Ziel der Philosophie ist immer das Erlangen der Wahrheit gewe- sen. Darin sind die verschiedenen philosophischen Richtungen einer- lei Meinung gewesen. Die Differenzen zwischen den einzelnen Syste- men setzen erst bei der Art und Weise ein, wie ein jedes von ihnen Wesen und Charakter der Wahrheit aufgefasst hat; denn jede Philo- sophie hat eine bestimmte Auffassung von der Wahrheit, und es gibt, wie man wohl sagen kann, ebensoviele Auffassungen von ihr, wie es verschiedene philosophische Systeme gibt. Somit ist die Geschichte der Philosophie gleichzeitig eine Geschichte des Wahr- heitsproblems.
Das Problem der Wahrheit kann man auch in einem beschränkte- ren. und schärfer umgrenzten Sinne fassen. Von der Wahrheit kann ihr ganzer, besonderer Inhalt, der jeweilig darin untergebracht ist, losgelöst werden; man kann nur ihre reine Form oder ihren Begriff als Problem aufstellen. Neben der Gesamtsumme vieler Wahrheiten kann man vom Begriff der Wahrheit reden, der nur ein einziger sein kann und als solcher alle Wahrheiten verbindet. Indem man die verschiedenen philosophischen Lehren und den Inhalt der Philo- sophie überhaupt vollkommen beiseitelässt, kann gefragt werden,
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was die Wahrheit ist, nach welcher die Philosophie strebt. Kann der Begriff der Wahrheit allgemeingültig bestimmt werden, oder wech- selt auch er je nach den verschiedenen Systemen? Mit einem Wort gesagt: gibt es einen allgemeinen Wahrheitsbegriff oder nur einzelne Wahrheiten? Und auf welche Weise ist dieser Wahrheitsbegriff logisch zu definieren?
Was ist die Wahrheit? Diese alte und berühmte Frage möchte ich zuerst in enger, logischer Bedeutung untersuchen. Selbst dann sind mit dieser Frage noch viele Schwierigkeiten verbunden, wie ihre häufig ganz entgegengesetzten Lösungen zeigen. Allerdings sind nicht alle Schwierigkeiten auf die Natur der Sache selber zurück- zuführen. Vielmehr sind die vielen verschiedenartigen Definitionen des Wahrheitsbegriffs daraus zu erklären, dass sie nicht immer eine und dieselbe Sache bedeuten. Schon Kanr hat bei der Behandlung des Wahrheitsbegriffs denjenigen, der die Frage stellt, und denjeni- gen, der sie beantwortet, mit zwei Menschen verglichen, von üenen »Einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt und der Andere cin Sieb unterhält».! Wenn jemand z.B. von dem Begriff der Wahrheit und ein anderer von den Kriterien bei ihrer Erkenntnis gesprochen hat, ist nicht zu verwundern, dass die Meinungen auseinanderzugehen scheinen, obgleich die Grundanschauung dieselbe sein kann. Doch wenngleich man so weit gekommen ist, dass von derselben Sache die Rede ist, setzt selbst die logische Definition des Wahrheits- begriffs schon die Lösung vieler anderer philosophischer Problen voraus. Sie ist nicht scharf von anderen philosophischen Problemen zu trennen, so dass ihre Behandlung notwendigerweise die Unter- suchung vieler Grundfragen der Philosophie mit sich bringt oder wenigstens eine Stellungnahme diesen gegenüber voraussetzt.
Als unsere Aufgabe ergibt sich somit, zunächst herauszustellen, was der Wahrheitsbegriff im logischen Sinne bedeutet. Vorläufig sehen wir vollkommen von den Fragen ab, auf welche Weise die Wahrheit erkannt werden kann, oder ob sie überhaupt erkanıt
I Kritik der reinen Vernunft, Reclam, S. 81.
BXXIIL,: Das Problem der Wahrheit. 7 werden kann. Die Lösung dieser Fragen kann das Wesen des Wahr- heitsbegriffs selber nicht sonderlich bestimmen helfen. Dieser Be- griff hat seinen eigenen Inhalt, unabhängig davon, ob jemand die Wahrheit in ihrer inhaltlichen Bedeutung kennt oder erkennen kann. Unsere Frage: Was ist die Wahrheit? richtet sich somit zunächst einzig und allein auf den logischen Wahrheitsbegriff.
Der Wahrheitsbegriff ist zu verschiedenen Zeiten, bis in die Gegenwart hinein, in der Philosophie auf sehr verschiedene Weise definiert worden. Die verschiedenen Auffassungsweisen, die über den Wahrheitsbegriff dargestellt worden sind, können in zwei ent- gegengesetzte Hauptgruppen eingeteilt werden, jenachdem die Wahr- heit als transzendent oder immanent, als absolut oder relativ,alsinhaltlich oder formal aufgefasst wird. Diese verschiedenen Gegenüberstellungen decken einander nicht, sondern können sich auf verschiedene Weise gruppieren, so dass sich viele verschiedene Arten, die Wahrheit zu definieren, ergeben haben. Auf diese Weise kann man z.B. die transzendente Wahrheit ent- weder als absolut vder als relativ, als inhaltlich oder formal begreifen. Ebenso kann die immanente Wahrheit entweder absolut oder rela- tiv usw. sein. Im Folgenden werde ich den Wahrheitsbegriff zunächst im Lichte dieser verschiedenen Gegensätze betrachten.
II. Die Transzendenz der Wahrheit.
Schon im vorwissenschaftlichen Sinne kann vom Wahrheits- begriff die Rede sein, wie auch ausserhalb der Wissenschaft ein Erkennen in Frage stehen kann.! Der allgemeine Sprachgebrauch bedarf schon zu rein praktischen Zwecken eines Wahrheitsbegriffs. Für ihn bedeutet die Wahrheit, dass »otwas stimmt», oder dass eine Aussage mit den Tatsachen oder mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind Wahrheiten Aussagen wie bei- spielsweise: »Es ist wahr, dass heute schönes Wetter ist», oder »Es ist wahr, das2 +2 =4 ist». Diese beiden Aussagen bedeuten nach dem
ı Vgl. VoLKeELt, Gewissheit und Wahrheit, München 1918, S. 270.
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allgemeinen Sprachgebrauch soviel wie Übereinstimmung mit einer »Tatsache», in ersterem Falle mit einer Naturerscheinung, in letzte- rem mit einer andersartizen »Tatsache», deren Charakter der Sprach- gebrauch nicht weiter bestimmt. Der gewöhnliche Sprachgebrauch gibt auch nicht näher an, was in diesem Falle »Übereinstimmun®» heisst. Ob die Aussage ein genaues »Abbild» des von ihr gemeinten Seienden ist — um ein möglichst allgemeines Wort zu gebrauchen —, oder ob die Aussage vollkommen mit ihrem Gegenstande zusammen- füllt, wie ein naives Bewusstsein anzunehmen geneigt ist, mag hier dahingestellt sein. Jedenfalls ist für den Wahrheitsbegriff des all- gemeinen Sprachgebrauchs charakteristisch, dass die Wahrheit als auf etwas Wirklichseiendes hinweisend gedacht ist. Das Gebiet der Wahrheit wird als über das Immanente und Subjektive hinausrei- chend angesehen. Sie ist somit transzendent. Der allgemeine Sprach- gebrauch verbindet die Wahrheit mit Aussagen, welche eine Sache als so angeben, wie sie ist, oder welche demnach zu etwas Seiendem in Beziehung stehen. Deshalb ist vom Standpunkt des allgemeinen Sprachgebrauchs aus z.B. eine der folgenden Aussagen wahr: »Schlangen mit Flügeln haben nie existiert», »Sie sind ausgestorben», »Sie existieren immer noch». Eine dieser Aussagen drückt den wirklichen Sachverhalt so aus, wie er ist, selbst wenn man nicht wüsste, welche von ihnen wahr ist.
Der transzendente Wahrheitsbegriff als solcher, wie er in der Philosophie auftritt, hat vom alleemeinen Sprachgebrauch für die Wahrheit das Merkmal übernommen, dass sie immer etwas Wirklich- selendes bedeutet. Nach dieser Auffassung bedeutet die Wahrheit, wenn es sich um ihre Erkenntnis handelt, die Übereinstimmung zwischen Erkennen und Wirklichkeit, so dass die Wahrheit, wie schon Tuomas voXx AQUINO sägt, die adequatic intellectus ei rei ist. Auf- gabe des Erkennens ist, die Welt als solche zu begreifen, wie sie Ist, Wesentlich für den transzendenten Wahrheitsbegriff ist somit, dass er Zweierlel voraussetzt, das Erkennen und seinen Gegenstand oder den vom Erkennen unabhängigen wirklichen Sachverhalt, der also dem Erkennen gegenüber transzendent ist. Die im Erkennen her-
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vortretende Wahrheit bedeutet immer die Beziehung des Erkennens zur Wirklichkeit. Im transzendenten Wahrheitsbegriff sind Unter- scheidungen festzustellen, jenachdem welcher Art und wie nahe die Beziehung zwischen Erkennen und Wirklichkeit aufgefasst wird. Diese Beziehung kann vollkommene Identität von Erkennen und Wirklichkeit, das »Abbilden» der Wirklichkeit durch das Erkennen oder auch nur die Beziehung bedeuten, dass das Erkennen auf irgend- eine bestimmte Weise die Wirklichkeit trifft und nur in diesem Sinne mit ihr übereinstimmt. Hingegen steht ganz und gar ausserhalb des logischen Wahrheitsbegriffs die Frage, welcher Art ihrem Wesen nach die Wirklichkeit selber ist. Ist die Wirklichkeit ihrem Wesen nach als psychisch oder physisch aufzufassen, ist sie Eines oder Vieles, und andere derartige Fragen sind in Bezug auf die logische Erklärung des Wahrheitsbegriffs gleichgültig.
\Wennder transzendente Wahrheitsbegriff in seiner oben ange- gebenen allgemeinsten und weitesten Fassung genommen wird, nach welcher die Wahrheit Übereinstimmung mit dem wirklichen Sach- verhalt oder wenigstens, um die Sache in möglichst allg»meiner Form wiederzugeben, einen Hinweis darauf bedeutet, ist, soviel ich sehe, der transzendente Wahrheitsbegriff logisch durchaus zu begründen. Wie Erkennen und Wirklichkeit auch definiert werden mögen — hierauf komme ich erst später zurück —, 50 setzt der Wahrheitsbegriff gewiss eine ausserhalb des Erkennens vorhandene oder transzendente Wirklichkeit voraus, hinsichtlich welcher die Wahrheit als gültig angesehen wird. Ohne Annahme eines vom Erkennen unabhängigen Sachverhalts ist schwerlich eine Wahrheit zu denken; denn wenn wir von der Wahrheit reden, meinen wir immer, dass unsere Aussage mit Rücksicht auf etwas von ihr unabhängig Wirklichseiendes gültig ist. Wenn ich z.B. sage: »Mein Tisch ist schwarz» oder »Mein Fenster ist offen, und wenn ich für diese Aussagen Anspruch auf Wahrheit erhebe, setzt es immer voraus, dass meinen Aussagen ein wirklicher Sachverhalt entspricht, und dass nicht die Wahrheit nur eine innere Eigenschaft meiner Aussage ist. In diesem Falle besagt die Wahrheit also die Übereinstimmung meiner Aussagen init einem transzendenten
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wirklichen Sachverhalt. Sie ist eine Beziehung zwischen dem Imma- nenten und Transzendenten, wobei beide Seiten, das ‚Immanente wie das Transzendente, erforderlich sind. Die Wahrheit kann nicht einzig und allein in einer Beziehung zwischen immanenten Faktoren ‚liegen. Beziehungen zwischen Vorstellungen und Urteilen unter- einander bilden noch keine Wahrheit. Ebensowenig kann die auf- gefasste Wahrheit nicht in einer Beziehung zwischen nur transzenden- ten Faktoren bestehen. Z. B. können zwei Markstücke miteinander übereinstimmen, wenn auch nicht von einer zwischen ihnen bestehen- den Wahrheit die Rede sein kann. Hierauf kann der Wahrheitsbegriff nicht angewandt werden. Wenn es sich um die Erkenntnis der Wahr- heit handelt, setzt sie gleichzeitig Immanentes und Transzendentes voraus und liegt somit in deren »Übereinstimmung.
Alle wissenschaftliche Forschung setzt den transzendenten Wahr- heitsbegriff voraus und baut sich auf ihm auf. Wenn z.B. ein Physiker die Bewegungsgesctze untersucht, tut er es in dem siche- ren Bestreben, klarzustellen, wie diese Gesetze in der Wirklichkeit selber gelten. Wenn die vom Physiker aufgefundenen Gesetze mit dem Seienden in Widerspruch ständen oder überhaupt nicht darauf angewandt werden könnten, wären sie nutzlos. So hätten die Untersuchungen des Physikers keinerlei Sinn, wenn er nicht den transzendenten Wahrheitsbegriff befolgte. Auf dieselbe Weise müss- ten auch die Forschungen des Chemikers ihren Boden verlieren, wenn er eines Tages merken würde, dass er sich nur mit seinen eigenen Vor- stellungen befasst, wenn ihm also aufginge, dass alle chemischen Ge- setze nur mitrücksichtauf seine Vorstellungen gültig wären, ohne sich auf das Seiende selber zu erstrecken. Dasselbe kann man auch von der übrigen wissenschaftlichen Forschung sagen. Z. B. ist die Arbeit des Ilistorikers nur von dem Standpunkt aus zu verstehen, dass er sich herauszustellen bemüht, wie, um RankEs Worte zu gebrauchen, die Dinge wirklich »gewesen sind» oder »wie sie geworden sind». Auch die Arbeit des Mathematikers bildet hier keine Ausnahme, obgleich die Gebiete der Algebra und der Geometrie nicht in demselben Sinne wirklich sind wie z. B. die Welt der Naturwissenschaften. Auch die
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Welt des Mathematikers ist als eine transzendente Wirklichkeit anzusehen, nach deren Erkenntnis er strebt. Auch sein Wahrheits- begriff ist somit transzendent. Alle wissenschaftliche Arbeit setzt demnach eine vom Erkennen unabhängige Sachlage, Wirklichkeit, Transzendenz, voraus. Von Wahrheit kann in der Wissenschaft nur dann die Rede sein, wenn das Erkennen nach der transzendenten Wirklichkeit strebt, wenn es Übereinstimmung mit dieser bedeutet. Wenn ich hier vun Wirklichkeit oder Transzendenz rede, sind sie natürlich nicht im metaphysischen Sinne zu nehmen. Ebenso sind auch alle metaphysischen Interpretationen vom transzendenten Wahrheitsbegriff zu sondern.
Die Identitätsauffassung von Denken und Sein.
Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass der transzendente Wahrheitsbegriff in verschiedenen Formen auftreten kann, jenach- dem wie dabei die Beziehung zwischen Erkennen und Wirklichkeit aufgefasst wird. Sie kann auf dreierlei Art begriffen werden. Die festeste Beziehung zwischen Erkennen und Wirklichkeit nimmt die- jenige Auffassung an, welche beide vollkommen miteinander identi- fiziert, wobei also das Erkennen und sein Gegenstand oder, wie man auch sagen kann, Denken und Sein zusammenfallen. Auf diese Weise fasst das naive Bewusstsein die Sache auf, das nicht einmal einen Unterschied zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstande macht, sondern rm Erkennen den Dingen selber, wie sie sind, unmittelbar zu begegnen glaubt. Doch ist der Wahrheitsbegriff des naiven Rea- lismus, wie leicht ersichtlich ist, unmöglich. Z. B. kann meine ÄAus- sage: »Die Erde umkreist die Sonne» nicht mit dem Gegenstande, den sie meint, identisch sein, s-Ibst wenn sie wahr wäre. Meine Aus- sage enthält weder Erde noch Sonne, sondern nur das Bestreben, etwas zu sagen, was über sie gilt. Von einer Identität meiner Aus- sage mit ihrem Gegenstande kann somit wenigstens in dem Sinne, wie das naive Bewusstsein annimmt, nicht die Rede sein.
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Auf einen grundsätzlich ähnlichen Wahrheitsbegriff, wenn auch von ganz anderen philosophischen Prinzipien ausgehend und auf andere Ergebnisse führend, gründet sich auch die panlogistische Philosophie, wie sie z. B. bei HEGEL, in SCHELLINGS Identitätsphilo- sophie und bei einigen Neukantianern und englischen Neuidealisten auftritt. Diese Philosophen sind sich der Identifizierung des Erken- nens mit der Wirklichkeit, des Denkens mit dem Sein vollkommen bewusst, während der naive Realismus sich ihrer nicht bewusst wird. Hier kommt es allerdings nicht daraufan, näher aufeine Analyse die- ses philosophischen Standpunktes, der zu verschiedenen Zeiten grosse Anerkennung gefunden hat, und aufeine Kritik seiner metaphysischen Lehre einzugehen.! Es sei nur bemerkt, dass auch der auf diesem Boden ruhende Wahrheitsbegriff auf unlösbare logische Schwierig- keiten führt. Er macht nämlich keinen Unterschied zwischen den Aussagen: »Einen Gegenstand denken» und »Denkend einen Gegen- stand erfassen». Erstere Aussage meint nur den Gegenstand, letz- tere glaubt ihn erschöpfend verfassen» zu können. Wir können näm- lich auch Begriffe über etwas, was grundsätzlich ausserhalb unse- rer Erkenntnis liegt, bilden: über Unbegreifliches, Unmögliches, Ir- rationales usw., was wir also nicht vollkommen zu erfassen glau- ben. Trotzdem aber können wir sie als Gegenstände des Erkennens denken und von ihnen Begriffe bilden. Z. B. kann der Begriff des Irrationalen, den wir im Denken bilden, und der als Begriff rativnal ist, nicht dasselbe wie das Irrationale sein. Dann würde das Ratio- nale mit dem Irrationalen zusammenfallen, was in logischer Hinsicht sinnlos wäre, Die identitätsphilosophischen Anschauungen, die zwi- schen dem Denken und seinem Gegenstand keinen logischen Unter- schied machen, nehmen dem ganzen Wahrheitsbegriff den Boden; denn zum Begriff der Wahrheit gehört als wesentlich, dass sie eine »Wahrheit über etwas» ist, dass sie das Streben nach Klarlırit über einen Gegenstand ist, der im logischen Sinne vom Erkennen
I Siehe meine Arbeit: Idealismus und Realismus in der englischen Philo- sophie der Gegenwart, diese Annalen Bd. XIX, N:o 3, S. 73 ff., 93 ff., 99 ff.
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getrennt werden muss. Der beim Erkennen auftretende Wahrheits- begriff setzt somit die Unterscheidung von Erkennen und Gegen- stand voraus, so dass diejenigen Auffassungen, welche das eine mit dem anderen identifizieren, den Wahrheitsbegriff unmöglich machen.
Die Abbildtheorie.
Die beiden anderen Interpretationsweisen des transzendenten Wahrheitsbegriffs unterscheiden sich von der oben dargestellten schon darin, dass sie das Erkennen und seinen Gegenstand als von- einander gesondert annehmen. Sowohl die sog. »Abbildtheorie», welche das Erkennen für ein mehr oder weniger genaues Abbild der Wirklichkeit hält, wie auch die »Übereinstimmungstheorie», die sich damit begnügt, dass das Erkennen auf irgendeine Art der Wirk- lichkeit selber begegnet, olıne ihr Abbild zu sein, gehen beide von der Grundlage aus, dass vom Erkennen sein Gegenstand zu trennen und als unabhängig von ihmanzusetzen ist. Jede dieser beiden Theorien fasst die Wahrheit, solange von ihr im Zusammnhang mit der Erkenntnis die Rede ist, derart auf, dass sie eine Beziehung zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstande bedeutet. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass die »Abbildtheorie», wie schon ihr Name sagt, annimmt, dass das Erkennen ein »Abbild» seines Ge- genstandes bedeutet, während dagegen nach der »Übereinstimmungs- theorie» das Erkennen in Bezug auf die Wirklichkeit nur »gültig ist.
Die »Abbildtheorie» der Wahrheit hat in der Philosophie viele Anhänger gehabt. Sie war beinahe die einzige Wahrheitstheorie der griechischen und mittelalterlichen Philosophie, und noch in der Neu- zeit bisin die Gegenwart hinein hat sie Ihre Vertreter gefunden. Ande- rerseits ist es auch das Verdienst der Abbildtheorie gewesen, dass in der Philosophie der transzendente Wahrheitsbegriff auf so heftigen Widerstand gestossen Ist; denn die Angriffe gegen den transzenden- ten Wahrheitsbegriff haben sich meistens gerade gegen den von der Abbildtheorie vertretenen Wahrheitsbegriff gerichtet.
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Die Anhänger der Abbildtheorie haben besonders in früheren Zeiten selten den Wahrheitsbegriff genauer definiert. Vor allen Din- gen ist nicht näher angegeben, in welchem Sinne der Gedanke auf- zufassen ist, dass die Erkenntnis ein »Abbild» der Wirklichkeit ist. Dies hat auch die Entgegnungen gegen die Abbildtheorie erleichtert. Sie hat dabei auf eine für sie unvorteilhafte Weise und sichtlich oft entgegen den eigentlichen Absichten ihrer Vertreter ausgelegt wer- den können; denn wenn man die Abbildtheorie in ihrer wörtlichen Bedeutung nimmt, nach welcher das Erkennen ein Abbilden oder Wiederholen der Wirklichkeit ist, sind ihre Schwächen offensichtlich. Häufig hat diese Theorie schon auf Grund dessen zurückgewiesen werden können, dass man ein Urteil nicht mit seinem Gegenstande vergleichen kann, da uns der Gegenstand niemals an sich oder nackt, sondern immer nur in unserer Erkenntnis entgegentritt.! Gegen die Abbildtheorie bemerkt HusserL, dass, wenn die Wahrheit darin bestände, dass das im Erkennen auftretende »Bild» erst dann gültig wäre, nach dem dieses Bild mit seinem Gegenstand, dem Objekt, ver- glichen worden ist, dies auf ein unendliches Übergehen von Bild zu Bild führen würde, so dass niemals ein fester Punkt erreicht wer- den könnte. Für das Vergleichen wäre nämlich ein »Bild» vom Bilde usw. bis ins Unendliche notwendig.? Die Anhänger von KAnTs Philo- sophie sind der Meinung, dass KANT die Abbildtheorie für alle Zeiten abgetan hat, indem er nachwics, dass es bei unserem Erkennen neben gegenständlichen oder inhaltlichen Bestandteilen auch formale oder rationale gibt, die uns daran hindern, die »Dinge an sich» aufzufassen und somit ein genaues Abbild von ihnen zu gewinnen.
Doch zu diesen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten können gegen die Abbildtheorie auch rein logische Ausstellungen vorgebracht werden. Unsere Erkenntnis ist keineswegs von ihrem Gegenstande ein »Bild», wie es im gewöhnlichen Sprachgebrauch unter diesem
I Siehe WINDELBAND, Die Prinzipien der Logik, Encyclopädie der philo- sophischen Wissenschaften I, Tübingen 1912, S. 8. * Logische Untersuchungen, Halle 1922, II, 1, S. 423.
BXXIIlı Das Problem der Wahrheit. 15 Worte verstanden wird. Unsere Vorstellung ist nicht dasselbe wie ihr Gegenstand oder ihm ähnlich. So ist z.B. unsere Vorstellung von einem Dreieck nicht selber dreieckig, unsere Vorstellung des Kühnen ist nicht selber kühn, unsere Vorstellung des Doppelten (z. B. bei einer Wand) ist nicht selber doppelt usw. Ebenso ist un- denkbar, dass z. B. unsere Urteile: »Die Geschwindigkeit des Lich- tes beträgt 300,000 km in der Sekunde», »Die Summe der Winkel in einem Dreieck ist gleich zwei Rechten» oder »Die Tugend ist des Dan- kes wert» auf irgendeine Weise Abbilder der Wirklichkeit wären, wenngleich sie wahr und also mit Rücksicht auf die Wirklichkeit gültig wären.
Dass es sich bei der Erkenntnis nicht um ein Abbilden in des Wortes eigentlicher Bedeutung handelt, geht schon aus dem Charak- ter der Erinnerungsvorstellungen hervor. Die Erinnerungsvorstel- lungen wiederholen in mancher Hinsicht ursprüngliche Anschauungs- vorstellungen, aber sie sind nicht als Kopien letzterer anzusehen. Ihre Intensität ist viel schwächer, und sie sind überhaupt unbestimm- t:r und allgemeiner. Ebenso sind sie an Inhalt ärmer, so dass man sie im Vergleich zur ursprünglichen Anschauung als in demselben Verhältnis wie ein farbloses Lichtbild zu einem farbigen Gemälde stehend ansehen kann. Wie bleich und mit dünnen Linien gezeich- net ist z. B. unser Erinnerungsbild von einer Stadt, in der wir ein- mal vor fünf Jahren gewesen sind, neben jenen lebendigen Anschau- ungsvorstellungen, die wir bei unserem dortigen Aufenthalt unmit- telbar erlebt haben! Oder in wie geringem Masse sind in unserem Gedächtnis Vorstellungen aus einem interessanten Buche haften geblieben, das wir vor langer Zeit gelesen haben, wenn wir sie mit allen den reichen Bildern vergleichen, welche bei der Lektüre jenes Buches in unserem Bewusstsein auftauchten! Es wäre sinnlos, in solchen Fällen von einem vollständigen Abbilden zu reden. Und doch können unsere Erinnerungen wahr sein und als solche von den Phantasievorstellungen gesondert werden. Allerdings können wir bisweilen unsere Phantasievorstellungen irrtümlicherweise für Erin- nerungsvorstellungen halten; doch ist diese Tatsache hier von unter-
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—
geordneter Bedeutung. Sobald eine Erinnerungsvorstellung wirk- lich ist, meint sie eine Tatsache, obgleich sie nicht diese Tatsache in ihrer Totalität abbildet. Dass einige wenige Erinnerungsvorstel- lungen einer Stadt, die ich vor langer Zeit aufgesucht habe, zutref- fend sind, setzt nicht voraus, dass ich in meinem Bewusstsein alle Erinnerungsvorstellungen jener Stadt bewahrt hätte. Ebenso kön- nen die Erinnerungsvorstellungen, die sich mir aus einem Buche, das ich gelesen habe, erhalten haben, zutreffend sein, obgleich nur einige wenige übriggeblieben sind. Obgleich meines Erachtens die Erinne- rungsvorstellungen nicht geeignet sind, den Charakter des Wahr- heitsbegriffs zu erhellen, zeigen sie doch, dass die Erkenntnis kein Abbilden voraussetzt .!
Die Abbildtheorie der Wahrheit vertritt auch eine Anschauung über Erkennen und Wirklichkeit, die sie mit der Erfahrung in Wider- spruch bringt. Diese Theorie nimmt nämlich an, dass die Wirklich- keit immer eine ganz fertige und unveränderliche ist, so dass das Er- kennen sie abbilden kann. Die Abbildtheorie ist somit in Bezug auf die Wirklichkeit und Erkenntnis statisch. Von ihrem Standpunkt aus ist überhaupt nicht zu verstehen, dass die Wirklichkeit selber sich entwickeln und die Erkenntnis Stufen des Fortschritts erreichen kann. Gegen eine derartige Theorie spricht die ganze Geschichte des menschlichen Denkens, die beständigen Kampf und beständiges Streben nach Wahrheit aufweist. Auch steht das Erkennen, wie sich später ergibt, nicht einzig und allein im Verhältnis einer photo- graphischen Kamera zur Wirklichkeit, sondern es ist einer ihrer Teile und als solcher auch von bestimmendem Einfluss auf ihren Charakter. Gegen das statische Weltbild der Abbildtheorie spricht
somit ein dvnamisches.?
ı Vgl. auch VoLKELT, a.a.0., S. 274 f.
2 Die Abbildtheorie verwerfen u. a. folgende Denker: H. Lortze, Logik, Philosophische Bibliothek Bd. 141, Leipzig 1912, S. & f., 535 f.;, H. Rıckeart, Das Leben der Wissenschaft und die griechische Philosophie, Logos XII, S. 338 f.; E. Hussent, Logische Untersuchungen II, 1, S. 421 f.; E. Lask, Die liogik der Philosophie und die Kategorienlehre, Tübingen 1911, S. 40 f., 82,
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 17
Die Übereinstimmungstheorie.
Die Gegner der Abbildtheorie gehen oft unmittelbar in das entge- gengesetzte Extrem über: sie lehnen den transzendenten Wahrheitsbe- griff ab. Sie vertreten den immanenten Wahrheitsbegriff, den sie oft, wie z. B. VaınıngER und die Pragmatisten, in eine subjektivistische und relativistische Richtung entwickeln. Schon VoLkELT hat die Willkürlichkeit eines solchen Verfahrens nachgewiesen. Er bemerkt, dass es sich hier nicht allein um die Alternative handelt: entweder ist die Erkenntnis ein Abbild, oder sie ist überhaupt nicht trans- zendent.! VOLKELT selber vertritt hier eine dritte Möglichkeit, nach welcher die berechtigten Bestandteile der Abbildtheorie erhalten und die unwesentlichen und strittigen ausgeschieden werden. Eine gewis- sermassen erneuerte Abbildtheorie wird von vielen anderen Denkern vertreten.?
Meines Erachtens geht allerdings VoLkeEur bei der Ablehnung der Abbildtheorie nicht weit genug. Er bewahrt z. B. sogar noch den Namen der Abbildtheorie. Schon dieser Umstand ist geeignet, die Auf- fassung hervorzurufen, dass die Erkenntnis auch dann noch Abbild bedeutet, wenn auch das Abbild ebenso mangelhalft wie z.B. ein Erinnerungsbild ıst. So wählt VOoLKELT selber schliesslich unter den beiden obengenannten Alternativen, die seiner Meinung nach nicht alle Möglichkeiten erschöpfen, und wählt die Abbildtheorie, wenn auch gewissermassen In einer erneuerten Form. Dann aber können auch gegen seinen Wahrheitsbegriff alle die Einwände erhoben werden, die gegen die ursprüngliche Abbildtheorie vor- gebracht worden sind. Auch sein Wahrheitsbegriff setzt den Ver- gleich der Vorstellung mit ihrem Gegenstande voraus. Doch wie
221 f.; B. Bauca, Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, Leipzig 1923, S. 17 f., 49 f., Max FRriscueisen-Köuter, Wissenschaft und Wirklichkeit, Leipzig und Berlin 1912, S. 140 f.; H. VaınınGer, Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1920; die Pragmatisten u.a.
1 Gewissheit und Wahrheit, S. 270 f.
a So z.B. LotTze, Rıckert, Hussenı, LAsk, FriscHhEisen-KöHLer. Siehe die oben S. 16 Anm. 2 angegebene Literatur.
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könnten wir dazu gelangen, da wir alle Gegenstände nur als Vor- stellungen und niemals an sich kennen. VoLKELTS Theorie hat auch von der Abbildtheorie die Auffassung übernommen, dass zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstande immer eine gewisse Bezie- hung der »Ähnlichkeit» besteht. Hiervon kann aber bei der Erkennt- nis nicht die Rede sein. Meine Vorstellung vom Roten ist nicht sel- ber rot, meine Vorstellung vom Pferde sieht nicht dem Pferde ähn- lich usw. Zwischen meinen Vorstellungen und den Gegenständen, die sie meinen, und überhaupt zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstande besteht keine Ähnlichkeitsbeziehung. Deshalb sind auch alle die verschiedenen Theorien über den Wahrheitsbegriff, die sich auf die Voraussetzung einer grösseren oder geringeren Ähn- lichkeit zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstande gründen, als unhaltbar anzusehen.
Zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstande kann nur von einer Übereinstimmung die Rede sein. Dasselbe meint auch der all- gemeine Sprachgebrauch, wenn er von der Wahrheit spricht, wie schon oben bemerkt worden ist. Die Übereinstimmung ist nicht als Abbild und auch nicht als Ähnlichkeit zu denken. Es steht hier nur ein Zusammenstimmen oder Zusammenpassen in Frage, in dem Sinne, wie wir beispielsweise von dem Passen eines Schlüssels zu einem Schloss oder eines Rades an einen Wagen usw. reden, wobei allerdings nicht ausser acht gelassen werden darf, dass die Vergleiche hinken. Unser Erkennen ist, wenn es Wahrheit enthält, in Bezug auf die Dinge, auf die es sich richtet, gültig. Dies heisst, dass wir z.B. mit unserer Vorstellung von einem Gegenstande die Vorstellung einer Eigenschaft verbinden, die wirklich mit jenem Gegenstande verbunden ist. Wenn wir z. B. sagen: »Mein Tisch ist schwarz», be- steht die Wahrheit meiner Aussage nicht darin, dass sie einen wirk- lichen Sachverhalt abbildet, sondern darin, dass meine Behauptung in Bezug auf den Gegenstand, den sie meint, gültig ist.
Die Übereinstimmungsbeziehung hat im Vergleich zur Abbild- beziehung auch den Vorteil, dass sie nicht den Vergleich der Vor- stellung mit ihrem Gegenstande fordert, einen Vergleich, dessen
BXXIIlı Das Problem der Wahrheit. 19
grundsätzliche Unmöglichkeit die Abbildtheorie aufhebt. Um von der in meiner Aussage enthaltenen Wahrheit oder von der Überein- stimmung meiner Aussage mit ihrem Gegenstande überzeugt zu werden, bin ich nicht gezwungen, die in meiner Aussage enthaltenen Vorstellungen mit ihren Gegenständen zu vergleichen. Z.B. setzt die Wahrheit, die in meiner Aussage »Diese Feder ist alt» enthalten ist, nicht voraus, dass ich ausser den Vorstellungen, die ich von der Feder habe, auch noch Kenntnis davon hätte, welcher Art die Feder an sich ist, oder was für Wirkungen sie ausser denjenigen, die sie auf mich ausübt, auf das übrige Seiende hat. Ebenso setzt die Wahr- heit meiner Aussage »Die Erde umkreist die Sonne» nicht einmal voraus, dass ich Kenntnis davon hätte, welcher Art Erde und Sonne an sich sind, sondern nur, dass der von mir vorgetragene Umstand in Bezug auf einen wirklichen Sachverhalt gültig ist. Wenn es sich um die Wahrheit handelt — ich spreche immer noch von der beim Erkennen auftretenden Wahrheit — ist die Stichhaltigkeit derjeni- gen Einwirkungen gemeint, die der Gegenstand des Erkennens auf unser Erkennen ausübt. Dabei handelt es sich somit nicht um die anderen Einflüsse dieses Gegenstandes und darum, was er als Ganzes und an sich ist. Deshalb erfordert auch der transzendente Wahrheits- begriff, der die Beziehung zwischen dem Erkennen und seinem Gegen- stand als eine Übereinstimmungsbeziehung erklärt, keineswegs, dass ich über meine Vorstellungen hinausgelangen müsste, um von der Wahrheit meiner Aussagen überzeugt zu werden.
Aus der oben dargestellten Analyse des Wahrheitsbegriffs geht hervor, dass die Wahrheit ihrem Begriff nach transzendent oder ‚auf eine vom Erkennen unabhängige Wirklichkeit hinweisend ist. Dabei ist allerdings die Beziehung des Erkennens zu seinem Gcgen- stande nicht als Identitäts- oder Abbild-, sondern als Übereinstim- mungsbeziehung zu denken. Die Transzendenz der Wahrheit wird weiterhin bestätigt, wenn wir den Blick auch auf ihr Gegenteil, den immanenten Wahrheitsbegriff, richten.
20 J. E.SALOMAA. BXXIILı
Derimmanente Wahrheitsbegriff.
Oben ist bereits darauf hingewiesen, dass die Schwächen der Abbildtheorie zum Teil veranlasst haben, die Denker auf das ent- gegengesetzte Extrem, auf denimmanenten Wahrheitsbegriff, zu führen, dessen Wesen darin besteht, dass die transzendente Be- deutung des Erkennens geleugnet und dieses ganz und gar als auf den Inhalt des Bewusstseins gerichtet abgegrenzt wird. Nach dieser Auffassung besteht die Wahrheit nicht in einem Hinweis auf das Transzendente, sondern ist durchaus eine innere Eigenschaft der Erkenntnis und stellt eine Beziehung unter ihren einzelnen Teilen dar. In schroffster Form haben in der Philosophie der Gegenwart die Positivisten, Pragmatisten und andere ihnen verwandte Richtungen diesen Wahrheitsbegriff vertreten. Gleichzeitig liegt er aber auch philosophischen Anschauungen zugrunde, die sich von jenen unter- scheiden. Auch Kant hat den immanenten Wahrheitsbegriff ver- treten, und viele Neukantianer und Neuidealisten * sind ihm darin gefolgt.
Der immanente Wahrheitsbegriff ist hauptsächlich in zwei For- men hervorgetreten: entweder wird die Wahrheit so aufgefasst, dass sie in einer Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen besteht oder darin, dass unsere Gedanken allgemeinen Denkgesetzen folgen.
Erstere Auffassung ist u.a. durch LockE vertreten, der die Wahrheit als Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen charakterisierte. Diese Anschauung haben u.a. die meisten Positivis- ten und Pragmatisten übernommen. Sie verstehen unter der Wahr- heit eine Aussage, die sich unseren übrigen Überzeugungen anpasst. Dieser Wahrheitsbegriff führt aber auf einen unendlichen Vergleich zwischen den Vorstellungen und nimmt somit dem Wahrheitsbegriff den Boden. Auch gründet sich dieser Wahrheitsbegriff auf eine ganz eieentümliche Auffassung vom Wesen des Erkennens. Z.B. stehen in dem Urteil »Berlin ist eine Hauptstadt» die Vorstellungen »Ber-
ı Vgl. Idealismus und Realismus, S. 98 ff. u.a.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 21
ln» und »Hauptstadt» in einer bestimmten Beziehung zueinander; aber wir schen d'e durch diese Aussage ausgedrückte Wahrheit nicht in der Beziehung der Vorstellungen zueinander, sondern in der Be- ziehung der Aussage zu den Gegenständen, die sie meint. Wenn die Wahrheit nicht die Übereinstimmung der Urteile mit der Wirklich- keit selber voraussetzte, sondern sich nur mit dem Einklang der Vor- stellungen zufriedengäbe, könnte mich nichts daran hindern, eine Aussage wie »Königsberg ist eine Hauptstadt» als wahr anzusehen; denn die Vorstellungen »Königsber® und »Hauptstadt» als Vor- stellungen passen ebensogut zusammen wie »Berlin» und »Haupt- stadt». Die Unzulänglichkeit der Definition des immanenten Wahr- heitsbegriffs zeigt sich auch darin, dass sie umgekehrt nicht mehr gilt. Auch vorausgesetzt, dass die Wahrheit in einer Übereinstim- mung zwischen den Vorstellungen bestände, könnte nicht behauptet werden, dass alle Aussagen, welche diese Bedingung erfüllen, wahr wären. Als solche ist diese Definition zu weit und setzt Ergänzung von anderer Seite voraus, und diese kann sie nur vom transzen- denten Wahrheitsbegriff erhalten.
Eine andere Form des immanenten Wahrheitsbegriffs ist die- jenige, dass die Wahrheit als eine Übereinstimmung mit allgemeinen Denkgesetzen angesehen wird. Auch Kaxrt vertritt diese . Auffas- sung.! Ebenso viele Neukantianer, z. B. Couen.? In der Tat spre- chen für diese Auffassung, wie VOoLKELT bemerkt, viele Um- stände. Denn die Wissenschaft überhaupt strebt nach Einheitlich- keit und System, was nur dann zu erreichen ist, wenn ihre Ergeb- nisse miteinander in Einklang gebracht werden. Doch hat VOoLKELT auch recht, wenn er bemerkt, dass System und Harmonie mit den Denkgesetzen noch kein ausreichendes Kennzeichen für die Wahr- heit ist. »Die Wahrheit wäre dann eben ein methodisches Spiel, eine systematische Unterhaltung des Denkens mit sich selber. An die
ı Kritik der reinen Vernunft, S. 81 f. — Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, hrsg. v. B. Erdmann, Leipzig 1884, 2. Dd., S. 135 f., 255 f.
® Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 191%, S. 67 f., 81 f.
3 Gewissheit und Wahrheit, S. 316.
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Stelle des planlosen Umherschweifens wäre freilich ein planvoll gezügeltes -Schreiten getreten. Aber intrasubjektiv wäre die ganze Bewegung nach wie vor. Solange dem Denken das transgrediente und transsubjektive Gelten abgesprochen wird, könnte die Über- einstimmung der Denkinhalte untereinander höchstens als eine Art ästlietischen Vorzugs gerühmt werden.»
Dieser Wahrheitsbegriff setzt auch genaue Kenntnis der Denk- gesetze voraus. Die Denkgesetze sind keineswegs als solche gegeben, sondern durch das Erkennen herauszustellen. Zu ihrer Aufstellung sind bereits dieselben Denkgesetze zu befolgen, durch deren Anwen- dung die Wahrheit erreicht wird. Dann aber bewegen wir uns offen- bar in einem Kreise, wenn wir zugleich der Meinung sind, dass die Wahrheit in einer Anpassung an die Denkgesetze besteht: erst defi- nieren wir die Denkgesetze als Gesetze, durch deren Befolgung die Wahrheit erlangt wird, und dann erblicken wir das Wesen der Walır- heit in dem, was mit den Denkgesetzen übereinstimmt. Ebenso macht diese Auffassung keinen Unterschied zwischen dem Wahren und dem Wahrscheinlichen; denn offenbar können auch unsere wahrscheinlichen Aussagen mit den Denkgesetzen übereinstimmen, wenngleich sie vielleicht nicht wahr sind. Z. B. steht das Urteil: »Da es in meinem Zimmer hell ist, scheint die Sonne» zweifellos in Har- monie mit den Denkgesetzen; aber es braucht richt wahr zu sein, da die Helle auch von einer anderen Quelle, z.B. von dem Licht, das eine Lampe aussendet, herrühren kann. Und schliesslich kön- nen auch ganz falsche Aussagen den Denkgesetzen entsprechend sein. Alles dieses zeigt, dass ein Zusammenstimmen mit den Denkgesetzen das Wesen der Wahrheit noch nicht erklärt. Diese sind, wie sich später noch ergeben wird, eine Bedingung der erkannten Walır- heit, nicht der Wahrheit selber. Die Wahrheit erfordert eine trans- zendente Grundlage, Gültigkeit in Bezug auf den Gegenstand, den sie meint.
Die Analyse des immanenten Wahrheitsbegriffs hat also auf ein durchaus negatives Ergebnis in Bezug auf diesen Begriff geführt. Die Wahrheit kann nicht immanent sein. Dies ist geeignet, gleich- :
BXXIIlı Das Problem der Wahrheit. 23
zeitig den oben dargestellten transzendenten Wahrheitsbegriff wei- ter zu stützen.
III. Das Absolute im Wahrheitsbegriff.
Die Frage, ob die Wahrheit relativ oder absolut ist, betrifft Be- schaffenheit und Gebiet der Gültigkeit der Wahrheit. Ob die Wahr- heit nur in einigen bestimmten Fällen oder in Bezug auf bestimmte Individuen gültig ist, wie es bei dem relativen Wahrheitsbegriff der Fall ist, oder ob sie allgemein und unbedingt gilt, wie es der absolute Wahrheitsbegriff erfordert, gehört zu den Fragen, die im Zusammen- hang mit dem Wahrheitsbegriff vorwiegend erörtert worden sind. Ist die Wahrheit wechselnd oder veränderlich, oder ist sie unverän- derlich und ewig? Diese Fragen sind auf die verschiedenste Art beantwortet worden. Einerseits wird die extreme Grenze durch einen relativen Wahrheitsbegriff vertreten, der die Wahrheit ganz und gar leugnet, und andererseits durch einen absoluten und voll- kommene Allgemeingültigkeit erfordernden Wahrheitsbegriff. Zwi- schen diesen extremen Grenzen liegen auch mehrere verschiedene Abarten des relativen und des absoluten Wahrheitsbegriffs oder Versuche, sie miteinander auszugleichen. Wenn ich im Folgen- den das Gültigkeitsgebiet der Wahrheit einer Prüfung unter- ziehe, gehe ich dabei noch von der Anschauung eines reinen, logischen Wahrheitsbegriffs aus, ohne in Betracht zu ziehen, inwieweit wir die Wahrheit zu erkennen vermögen, und ob wir sie überhaupt zu erkennen vermögen.
Derrelative Wahrheitsbegriff.
Ich möchte vom extremen relativen Wahrheitsbegriff, d.h. vom Leugnen der Wahrheit ausgehen. Diese Auffassung ist in der Geschichte der Philosophie hauptsächlich bei den Skeptikern aufgetreten. Be- sonders haben die Skeptiker der alten Zeit häufig den Satz wieder- holt: »Es gibt keine Wahrheit.» Dieselbe Auffassung ist auch später
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aufgetreten. Sie gehört z.B. zu NiıETzZscHEs Lieblingsgedanken.! Häufig sind auch schon der Selbstwiderspruch und die Unmöglich- keit des extremen Skeptizismus nachgewiesen worden.? Denn voll- kommenes Leugnen oder auch Bezweifeln der Wahrheit setzt bereits Wahrheit voraus. Wenn der Skeptiker mit seiner Aussage: »Es gibt keine Wahrheit» Anspruch auf Gültigkeit erhebt, kann sie ihm nur auf Grund der Voraussetzung zuteilwerden, dass es wenigstens eine Wahrheit gibt. Offensichtlich bedeutet die Aussage: »Es gibt keine Wahrheit» dasselbe wie: »Kis ist eine Wahrheit, dass es keine Wahr- heit gibt», eine Behauptung, deren Selbstwiderspruch unleugbar ist. Vollkommenes Leugnen der Wahrheit macht auf diese Weise sich selber unmöglich. Deshalb ist auch der vollkommene Skeptizismus ein widerspruchsvoller Standpunkt; denn indem er sich bemüht, die Wahrheit zu leugnen, anerkennt er nichtsdestoweniger bereits in demselben Augenblick eine solche. Wer sich auf den Standpunkt des vollkommenen Skeptizismus stellen möchte, müsste zu sprechen und zu urteilen aufhören. Mit allen Urteilen ist schon ohne weiteres die Voraussetzung der Wahrheit verbunden.
Diese Eigenschaft der Wahrheit ist treffend als »Selbstgarantie der Wahrheit» bezeichnet worden.? Vollkommenes Leugnen der Wahrheit ist unmöglich. In diesem Sinne kann auch die Wahrheit nach WINDELBAND als »Fundamentaltatsache» angesehen werden. Es kann nur gefragt werden, wie weit ihre Gültigkeit reicht, und ın- wieweit wir sie zu erfassen fähig sind.
Diejenigen Vertreter des relativen Wahrheitsbegriffs, welche die Wahrheit nicht leugnen, möchten die Gültigkeit der Wahrheit nur auf bestimmte Fälle und auf bestimmte Individuen beschränken.
' Siehe Frieprich NIrTzsches Werke, Taschenausgabe, Leipzig 1906, Bd. IX, S. 366, 403, 434 f., 450, 456.
2 Siehe Hussert, Logische Untersuchungen I, S. 112; Rıckert, Der Gegenstand der Erkenntnis, Tübingen 1921, S. 6 f.; LoTze, Logik, S. 485 [., Ssorf.
3 J. Conn, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, Leipzig 1908, S. 2.
4 Die Prinzipien der Logik, S. & f.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 25
Nach dieser Auffassung ist die Wahrheit beständig veränderlich und wechselnd. Meist wird die Wahrheit, je nach den Individuen, die sie auffassen, als wechselnd aufgefasst, so dass sie also subjektiv ist. Dies war schon der Kern der sophistischen Lehre, die PRoTs- GORAS in den bekannten Satz: »Der Mensch ist das Mass aller Dinge» eingekleidet hat. Es gibt keinen unbedingten Unterschied zwischen Wahrem und Falschem, wie es keinen Unterschied zwischen stark und schwach, nützlich und schädlich, warm und kalt gibt. Alles hängt vom erkennenden Subjekt ab, welches das Wahre und das Falsche usw. bestimmt. Das Subjekt hat unbedingte Übermacht über das Objekt. Deshalb konnte ArISTOPHANES in seinen »Wolken» über die Lehre der Sophisten sagen, dass man nach ihr das »Grosse klein, das Kleine gross, das Alte neu und das Neue alt» machen kann. Was mir als Wahrheit erscheint, kann ein anderer als Irrtum ansehen, oder umgekehrt. So können auch die Anschauungen aller Menschen wahr sein, da die Wahrheit nur eine subjektive Bedeutung hat.!
PLarTon hat bereits in seinem Dialog »Theätet» den schroff sub- jektiven Wahrheitsbegriff als unmöglich und widersprechend nach- gewiesen. Er tut es auf eine so erschöpfende Art, dass schwerlich noch etwas hinzuzufügen ist. Wenn die Wahrheit rein subjektiv, wenn also die Anschauungen aller wahr wären, dann wären nach PLaTox auch die Meinungen derjenigen, welche die Lehre der So- phisten für falsch halten, wahr, so dass die Sophisten auf diese Weise die Unzulänglichkeit ihrer eigenen Lehre zugeben.? PLATON weist auch nach, dass die Lehre von einer beständig wechselnden Wahr- heit auch schliesslich jeden gewöhnlichen Sprachgebrauch unmög- lich machen würde. »Denn man darf nicht einmal diesen Ausdruck ’so’ brauchen. Denn dann würde keine Bewegung mehr stattfinden. Ebensowenig "nicht so’. Denn auch dies ermangelt der Bewegung. Die Anhänger dieses Satzes müssen also eine neue Sprache erfinden, da sie jetzt für ihre eigene Voraussetzung keine Worte besitzen, es
ı Vgl. K. Joer, Geschichte der antiken Philosophie, Tübingen 1921, I, S. 651, 655, 673 f., 707, 710 f., 728 f. » Platons Theätet, übers. von O. Apelt, Leipzig 1921, S. 76.
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müsste denn das "überhaupt nicht’ sein; denn das würde in seiner völligen Umbestimmtheit noch am besten für sie passen.
Der relative Wahrheitsbegriff hat jedoch in der späteren ‚Philo- sophie, besonders in der Gegenwart, viele Anhänger gefunden. Er hat vielen der philosophischen Anschauungen zugrundegelegen, die in den letztvergangenen Jahrzehnten nacheinander »Mode» gewesen sind. So erklärt NiETZscHEs »Perspektivismus» die Wahrheit, wie das ganze Sein, als relativ. Er anerkennt keinerlei Tatsachen, auf die sich ein »sicheres» Erkennen gründen könnte. »Kritik der neueren Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als ob es "Tatsachen des Bewusstseins’ gäbe — und keinen Phänomenalismusin der Selbst-Beobachtung»®* Nach NIETZSCHE gibt es keine Tatsachen, sondern nur deren Erklärungen. Alles als subjektiv zu erklären, wie es der Subjektivismus tut, ist auch Erklärung; denn das Subjekt ist nur als eine durch das Denken erreichte Hypothese gege- ben.
Wesentlich derselben Anschauung wie NIETZSCHE ist, was den Wahrheitsbegriff anbetrifft, VAIHINGER, wie auch sonst sein Fik- tionalismus nahe mit NiıETzscHEs Perspektivismus verwandt ist. Nach VAIHINGER ist die Wahrheit, wie alles andere in der Welt, eine reine Fiktion oder ein selbstwidersprechender Hilfsbegriff. Er führt die vielen Irrtümer in der Geschichte der Philosophie auf den Glauben und das Streben nach absoluter Wahrheit zurück. Eine solche gibt es nach VAIMINGER nicht. »Die Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum sind also ebenso verschiebbar wie alle solche Grenzen, z.B. zwischen Kalt und Warm»? Die Wahrheit ist nur der zweckmässigste Grad des Irrtums, und der Irrtum ist der unzweck- mässigste Grad der Vorstellung. Das ganze Denken kann als ein reenlierter Irrtum angesehen werden.
.
ı Ebenda, S. 96 f.— Vgl. auch B. BaucH, Die Diskussion eines modernen Problems in der antiken Philosophie, Logos V, S. 145 f.
?2 FRIEDRICH NIETZSCHES Werke, IX, S. 362.
3 Die Philosophie des Als Ob, 8. 193.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 27
Auch zu den Grundlehren des Pragmatısmus gehört die Beto- nung der Relativität und Subjektivität der Wahrheit. Die Pragma- tisten halten die Wahrheit für ein rein menschliches Produkt, dem keinerlei objektive Bedeutung beigemessen werden kann. Die Wahr- heit betrachten sie sub specıe ver: et falsı, indem sie das Bereich der Wahrheit so weit fassen, dass es auch den Irrtum umfasst. Die mei- sten Pragmatisten gehen in der Betonung der Relativität der Wahr- heit so weit, dass sie diese als beständig wechselnd ansehen. Beson- ders SCHILLER ist der Meinung, dass dasselbe Urteil bei derselben Person zu verschiedenen Zeiten Wahrheit und Irrtum bedeuten kann. Was für den einen Wahrheit bedeutet, kann für den anderen Irrtum sein, oder umgekehrt, wie auch die Sophisten gelehrt haben.
Weiter liegt der subjektive und relative Wahrheitsbegriff vielen anderen philosophischen Richtungen oder Lehren zugrunde. AvENA- Rıus’ und Macnas Standpunkt der »reinen Erfahrung, wie auch der Positivismus und Naturalismus im allgemeinen, bewegen sich auf diesem Boden. SPENGLERS Geschichtsphilosophie lehrt auch die Subjektivität der Wahrheit. Diese Auffassung ist ziemlich tief in Geist und Anschauungsweisen der Gegenwart eingedrungen. Schon bei vielen Vertretern von Spezialwissenschaften tritt sie auf, ja sogar in Zeitungsartikeln ist häufig von der Relativität der Wahr- heit die Rede. Bei vielen hat sich die Relativität der Wahrheit gleich- sam zu einem Axiom herausgebilldet.
Der relative Wahrheitsbegriff ist somit in verschiedenen Formen hervorgetreten, und es sind auch vielfach anscheinend schwerwie- gende Gesichtspunkte für ihn vorgebracht worden. Meist aber hat es sich hierbei um schwere Begriffsverwirrungen gehandelt; denn die zugunsten der Relativität der Wahrheit vorgebrachten Argumente stützen nicht sie selber, sondern irgendeine andere Sache. Sie Können 2.B. die Begrenztheit und Unvollständiekeit unserer Erkenntnis nachweisen. Dies bedeutet noch nicht die Relativität des Wahrheits- begriffs. Eigentlich ist der relative Wahrheitsbegriff ebenso un- verständlich wie das Leugnen der Wahrheit; denn wenn der Gedanke, der ihm zugrundeliegt, auch auf sich selber ausgedehnt wird, zeigt
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er seine eigene Unmöglichkeit. Eine Anschauung, welche die Wahr- heit als relativ erklärt, lehrt gleichzeitig auch ihre eigene Relativität. Sie ist selber relativ und als solche nicht unbedingt gültig. Die rela- tive Wahrheit, die ihrem Begriff nach also auch Irrtum sein kann, ist somit gar keine Wahrheit. Sie anzunehmen ist in der Tat dasselbe wie ein Verzicht auf den Wahrheitsbegriff.
Der relative Wahrheitsbegriff ist demnach schon ein unmöglicher Begriff und könnte als solcher beiseitegelassen werden. Seine All- gemeinheit in der Philosophie der Gegenwart legt aber nahe, noch weiter die Aufmerksamkeit auf einige seiner Hauptmerkmale zu richten.
Charakteristisch für den relativen Wahrheitsbegriff ist, dass nach ihm die Wahrheit vom erkennenden Subjekt abhängig ist. Dabei kann das Subjekt entweder als ein erkennendes Individuum oder als eine Spezies aufgefasst werden. Hiernach nimmt auch der Wahr- heitsbegriff einen verschiedenen Charakter an. In ersterem Falle verändert die Wahrheit sich jedesmal je nach dem erkennenden Individuum, in letzterem nach der Spezies, so dass sie also z.B. dem Menscheneeschlecht gemeinsam ist.
Den individual-subjektiven Wahrheitsbegriff haben die Sophisten vertreten. Ähnliche Anschauungen sind auch, wie aus Obigem bereits hervorgeht, u. a. bei NIETZSCHE, VAIHINGER und den Pragma- listen anzutreffen. Diese Anschauung nimmt jedoch dem Wahrheits- begriff den Boden. Wenn es nämlich gälte, dass die Wahrheit immer vom erkennenden Bewusstsein abhängig wäre, bedeutete es dasselbe, dass auf jegliches Urteilen verzichtet werden müsste. Von diesem Standpunkt aus wäre gleichgültig, wie auf eine Frage geantwortet wird, bejahend oder verneinend. Ebenso könnte man in demselben Falle ebensowohl eine bejahende, als auch eine verneinende Antwort geben. Für das eine Individuum würde »Ja», für ein anderes »Nein», für ein drittes vielleicht beides auf einmal gültig sein. Von einem solchen Standpunkt aus erscheint es als nutzlos, überhaupt noch weiter von Wahrheit zu reden. Denn die Wahrheit kann nur dort
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 29
einen Sinn haben, wo eine einzige Wahrheit vielen individuellen Mei- nungen gegenübergestellt wird.
In gemilderter Form tritt der Relativitätsgedanke der Wahrheit auf, wenn sie als abhängig von der Erkenntnisart der Spezies an- gesehen wird. Dieser Wahrheitsbegriff könnte als anthropologisch bezeichnet werden. Er besagt, dass die Urteile uns Menschen wahr und allgemeingültig erscheinen, wenn sie in Übereinstim- mung mit allen Denkgesetzen gebildet worden sind; aber sie ent- halten keine absolute, objektive Wahrheit. Demgemäss kann die Wahrheit für Wesen, die mit einem anderen Denkmechasismus aus- gestattet sind, ganz anderer Art sein als für uns Menschen.
Der relative Wahrheitsbegriff in seiner anthropologischen Form ist in der Philosophie der Gegenwart durchaus vorherrschend gewe- sen. Er tritt nicht allein bei den obengenannten verschiedenen philo- sophischen Moderichtungen auf, sondern er liegt auch den Darstel- lungen der meisten bekannten Logiker der Gegenwart zugrunde. So hat auch HusserL eingehend nachgewiesen, dass Mırıs, Baıns, WUNDTS, SIGWARTS, ERDMANNS und Liıpps’ Darstellungen der Logik vom anthropologischen Wahrheitsbegriff ausgehen.!
Der anthropologische Wahrheitsbegriff besagt, dass die Wahrheit vom Denkmechanismus des Menschen abhängig ist. Dieser wiederum ist, wie alles andere auch, ein Ergebnis der Entwicklung und alssolches veränderlich und gibt also keine Gewähr für die objektive Gültigkeit der Wahrheit. So sagt z. B. ERDMANN, dass die Unmöglichkeit, dass entgegengesetzte Urteile gleichzeitig wahr wären, uns nur bezeugt, dass die apodiktischen Urteile die Bedingungen unseres Denkens bedeuten. Doch kann nicht zugleich zwingend nachgewiesen Wwer- den, dass die Bedingungen unseres Denkens auch die notwendigen Bedingungen alles möglichen Denkens wären. Es wird auch häufig auf die Entwicklung unserer Kategorien hingewiesen, und man glaubt, dass sich mit ihnen auch die Wahrheit entwickelt. Weiter werden Wesen als möglich angeschen, die ganz andere Kategorien als wir
2 Logische Untersuchungen I, 124 ff.
30 J. E.SALoMmAA. BXXIIIa
haben, und dabei wird angenommen, dass diese neuen Katcgorien auch eine ganz andere Wahrheit mitsichbringen. Auf diese Weise führt auch der anthropologische Wahrheitsbegriff schliesslich auf vollkommcene Relativität.
Es lässt sich nicht leugnen, dass die Argumente, die zugunsten des anthropologischen Wahrheitsbegriffs angeführt worden sind, viel Unwiderlegbares enthalten. Es ist als möglich anzusehen, dass es ein Seelenleben gibt, das sich vom menschlichen Seelenleben unter- scheidet. Es könnten Wesen existieren oder einmal entstehen, die ganz andere Anschauungs- und Denkformen als die Menschen haben. Auch von veränderlichen Denkgesetzen und Kategorien zu reden, mag zutreffend sein.* Doch alles dieses macht den Wahrheitsbegriff immer noch nicht relativ. Es betrifft nur den Inhalt der empirischen Welt, nicht den Wandel der Wahrheit selber, die auf jenen In- halt gerichtet ist; denn wenn auch die Gegenstände der Wahrheit dem Wechsel unterliegen können, schliesst dies noch nicht ein, dass sich damit auch die Wahrheit veränderte. Beispielsweise ist meine Aussage: »Das Wasser im Flusse verändert sich immer» selber unbedingt und allgemeingültig, wenn sie überhaupt eine Wahrheit enthält, obgleich sie sich auf einen veränderlichen Gegenstand bezieht. Die Wahrheit tritt immer mit dem Anspruch der Unbedingtheit auf. Wie schon früher hervorgehoben ist, folst schon aus ihrem Begriff, dass nicht dieselbe Aussage für das eine Subjekt wahr, für ein anderes falsch sein kann. Hierbei ist belang- los, ob das Subjekt als Individuum oder als Spezies aufgefasst wird.
Der anthropologische Wahrheitsbegriff gründet sich auf den Irr- tum, dass damit die Wahrheit als Begriff an den menschlichen Denk- mechanismus gebunden wird. Eine derartige Auffassung könnte nur als möglich angesehen werden, wenn es sich um das Erfassen der Wahrheit handelte. Der Begriff der Wahrheit als solcher ist von den Erkenntnisformen und somit auchvom Denkmechanismus zu sondern.
! Vgl. meine Arbeit: The Category of Relation, diese Annalen, Bd. XIX, N:0 2,8. 12f,, 1831.
BXXIIlı Das Problem der Wahrheit. 31
Sonst könnte man darauf kommen, dass es ohne Denkmechanismus keine Wahrheit gäbe. Die Relativität der Wahrheit bringt, wie Hus- SERL bemerkt!, die Relativität der Existenz der Welt mit sich. Aus der Subjektivität der Wahrheit folgt auch die Subjektivität ihres Gegen- standes. Die Wahrheit kann nicht als relativ angesehen werden, “ohne gleichzeitig nicht auch das Sein als relativ anzusetzen, da beide, wie später noch näher zu untersuchen ist, in einer Korrelatbezie- hung zueinander stehen. Die Wahrheit als relativ zu erklären, setzt aber andererseits ein objektives, absolutes Sein voraus — hierin be- ‘steht der unauflösbare Widerspruch eines jeden relativen Wahr- heitsbegriffs.
Die extrem empiristischen Anschauungen haben im allgemeinen den anthropologischen Wahrheitsbegriff angenommen. Die Sinnes- erfahrung, die alles als wechselnd und verändcrlich ausweist, scheint auch für den relativen Wahrheitsbegriff zu sprechen. Die unmittel- bare Sinneserfahrung kennt nichts Festes und Bleibendes. Ihr er- scheint alles als augenblicklich und veränderlich, wie schon die Aus- drücke, die in ihr Bereich gehören, wie »hier, »dort», »jetzt», »heute», »morgen», »oben», »unten» usw. zuerkennen geben. Eine Empfindung, die ich jetzt habe, ist nach einem Augenblick eine andere geworden. Z. B. verändert ein grüner Rasen, der durch mein Fenster zu sehen ist, nach einer gewissen Zeit seine Farbe, und. auch jetzt sieht sein Grün im Sonnenschein anders als im Schatten aus. Ist nicht, da die Dinge so stehen, Veranlassung gegeben, auch die Wahrheit als wech- selnd anzusehen?
Zu dieser Annahme besteht allerdings keinerlei Berechtigung. Der beständige Wechsel in der Sinnenwelt führt noch nicht die Rela- tivität des Wahrheitsbegriffs mit sich. Denn beispielsweise kann meine Aussage: »Der Rasen ist grün» immer in eine Form gebracht werden, dass unbedingte Gültigkeit für sie in Anspruch genommen werden kann, wenn nämlich eine genaue Zeit- und Raumbestimmung damit verbunden wird. In einer solchen Form kann das erwähnte
13.2.0.1,S. 121.
32 J. E.SALOMAA. . BXXIILı
Urteil unbedingte Gültigkeit verlangen. Sobald ich ein Urteil aus- spreche, das die sinnliche Erfahrungswelt betrifft, bin ich gewiss davon überzeugt, dass sich der Sachverhalt verändert, gleichzeitig aber weiss ich auch, dass ein anderer unbedingter Sachverhalt an seine Stelle tritt, der Gegenstand eines neuen unbedingten Urteils seinkann. Auch in diesen Fällen bleibt also die Wahrheit unveränder- lich. Selbst der extreme Empirismus, der nichts als die sinnliche Erfahrungswelt anerkennt, führt somit nicht auf einen relativen Wahrheitsbegriff, sondern nur darauf, dass die einzelnen Wahrhei- ten wechseln.
Als Resultat aus Obigem kann also dargestellt werden, dass sich der relative Wahrheitsbegriff immer dann als ein innerlich wider- spruchsvoller Begriff zeigt, wenn die Wahrheit als abhängig vom Sub- jekt angeschen wird, mag es nun als Individuum oder als Spezies aufgefasst werden. Ebensowenig wie das Sein kann auch die Wahrheit vom erkennenden Individuum abhängig sein. Auch die Wahrheiten, die am meisten subjektiv zu sein scheinen, haben einen objektiven Boden. Auch sie sind nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Wahrheit ihrem Charakter nach absolut ist.
Die absolute Wahrheit.
Der Selbstwiderspruch des relativen Wahrheitsbegriffs führt auf diese Weise überall auf den absoluten Wahrheitsbegriff. Wir haben geschen, dass zum Begriff der Wahrheit schon als wesentlich der Charakter des Absoluten gehört. Alle wissenschaftliche Forschung beruht auf der Voraussetzung, dass die Wahrheit unbedingt ist. Nur in diesem Falle lohnt es sich auch, nach ihrer Erkenntnis zu streben. Dies heisst nicht, dass die Erreichbarkeit der absoluten Wahrheit vorausgesetzt wäre. Es hebt nicht die Möglichkeit des Irrtums und des Trugs auf. Vielmehr ist nur auf Grund des absolu- ten Wahrheitsbegriffs die Rede von Irrtum und Wahrheit überhaupt verständlich. Wenn die Wahrheit relativ wäre, müsste auch der Irr- tum relativ sein. Dann würde auch das Streben nach Erkenntnis
BXXIIL:ı Das Problem der Wahrheit. 33
und Wahrheit seine Bedeutung verlieren, wenn es zwischen Wahrheit und Irrtum keine unbedingte Grenze gäbe.
Die Philosophie kann sich letzten Endes nur auf dem absolu- ten Wahrheitsbegriff aufbauen.' Auch diejenigen philosophischen Anschauungen, die den unbedingten Wahrheitsbegriff verwerfen, gehen von ihm aus. So nimmt z.B. der Positivismus, der die ganze Wirklichkeit in der bunten und stets veränderlichen Sin- nenwelt erblickt und unter Berufung auf diese die absolute Wahrheit verleugnen zu können glaubt, im geheimen doch die Wahrheit als absolut an. Denn auch der Positivismus glaubt an die Unbedingt- heit seiner Lehre von der ausschliesslichen Wirklichkeit und dem beständigen Wandel der Sinnenwelt. In diesem Sinne nimmt auch er eine absolute Wahrheit an. Der Positivismus würde den Boden verlieren, wenn er seine Lehre als vollkommen relativ zugeben würde. Dann wäre es unmöglich, ihn irgendwie ernstzunehmen. Ebenso nimmt der Pragmatismus, während er den Wandel alles Seienden und damit auch der Gedanken, Theorien und Wahrheiten lehrt, dennoch zugleich eine absolute Wahrheit an. Denn er glaubt dabei an das Absolute des Wandels und der Entwicklung und hält es für eine Wahrheit. Ohne den absoluten Wahrheitsbegriff würde auch der Pragmatismus den Boden verlieren. Ohne ihn ist ein Philosophieren durchaus unmöglich und entbehrlich. Zum Wesen der Wahrheit gehört die Unbedingtheit. NurbeiderErkenntnisder Wahrheit kann von einer Relativität die Rede sein, wie sich später des näheren ergeben wird.
IV. Die Inhaltlichkeit der Wahrheit.:
Beim Begriff der Wahrheit werden häufig eine formale und eine inhaltliche oder materiale Seite unterschieden, oder die Wahrheiten werden in formale und inhaltliche Wahrheiten eingeteilt. So hat schon LEIBNIZ zwischen veritds de raıson und verites de fait oder Vernunft- und Tatsachenwahrheiten unterschieden. Freilich stellen auch diese Merkmale, die der Wahrheit zuerteilt sind, keine unbestreitbaren
3
34 J. E.SaALOoMAA. BXXIIIı
Eigenschaften dar. Vielmehr ist häufig schwerlich herauszustellen, was darunter zu verstehen ist, da verschiedene Denker sie auf ganz verschiedene Art definieren.
KAnT, der sich auch dieser Einteilung bedient, definiert die for- male Wahrheit folgendermassen: »Denn die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung der Erkenntnis mit sich selbst bei gänzlicher Abstraktion von allen Objekten insgesamt und von allem Unterschiede derselben. Und die allgemeinen forma- len Kriterien der Wahrheit sind demnach nichts anderes, als allge- meine logische Merkmale der Übereinstimmung der Erkenntnis mit sich selbst, oder — welches einerlei ist — mit den allgemeinen Ge- setzen des Verstandes und der Vernunft.»!
Diese Auffassung ist auch die allgemeinste. Die meisten Logiker verstehen unter formaler Wahrheit etwas, was nur formal die An- forderungen der Wahrheit erfüllt, oder, wie CoUTURAT sagt ?, des- sen Wahrsein und Falschsein von seiner Form und nicht von seinem Inhalt abhängen. Die Meinungen gehen hauptsächlich nur darin auseinander, welche Denkgesetze für die formale Wahrheit als ent- scheidend angesehen werden. Viele erklären, dass die Gesetze der Identität und des Widerspruchs oder eines von beiden allein für die formale Wahrheit ausreichend sind. Doch ist diese Frage hier noch von untergeordneter Bedeutung, da sie die Denkgesetze und nicht die Wahrheit betrifft. Hier können wir uns mit einer Definition der formalen Wahrheit begnügen, nach welcher das Wesen der Wahr- heit in der Befolgung der formalen Denkgesetze besteht, eine Defini- tion, welche in dieser allgemeinen Form die meisten Denker, die von der formalen Wahrheit reden, zu akzeptieren scheinen 3
Neben der formalen Wahrheit nimmt man die inhaltliche Wahr- heit an oder die verite de fait, wie LEIBNIZ sagt. Was darunter zu
ı Logik, Philosophische Bibliothek Bd. 43, Leipzig 1904, S. 56.
2 Die Prinzipien der Logik, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaf- ten I, Tübingen 1912, S. 151.
3 Vgl. WınpeLpann, Die Prinzipien der Logik, S. 9; Lask, Die Logik der Philosophie, S. 38; VoLKELTt, Gewissheit und Wahrheit, S. 198 f.
BXXIIL,ı Das Problem der Wahrheit. 35
verstehen ist, hat Kant kurz folgendermassen dargestellt: »In die- ser Übereinstimmung einer Erkenntnis mit demjenigen bestimmten Objekte, worauf sie bezogen wird, muss aber die materiale Wahrheit bestehen.»1! Während die formale Wahrheit gar nicht den Gegen- stand berücksichtigt, ist dieser wiederum für die inhaltliche Wahrheit einzig und allein entscheidend. Das Charakteristikum der inhalt- lichen Wahrheit besteht kurz gesagt darin, dass sie in Bezug auf ihren Gegenstand gültig ist.
Wenn formale und inhaltliche Wahrheiten voneinander unter- schieden werden, wie es heute noch viele Denker tun, ist die Folge davon, dass die Aussagen in vier verschiedene Gruppen eingeteilt werden können: in Aussagen, die
1. sowohl formal als auch inhaltlich wahr sind; 2. formal und inhaltlich falsch sind;
3. formal wahr, aber inhaltlich falsch sind;
4. formal falsch, aber inhaltlich wahr sind.
Als Beispiele für diese Aussagen können folgende Schlüsse die- nen: Der Mensch ist sterblich; Peter ist ein Mensch; also ist Peter sterblich (1). Der Mensch ist unsterblich; der Baum ist unsterblich; also ist Peter unsterblich (2). Der Mensch ist unsterblich; Peter ist ein Mensch; also ist Peter unsterblich (3). Der Mensch ist sterblich; der Baum ist sterblich; also ist Peter sterblich (4). Wie aus diesen Beispielen hervorgeht, können formale und inhaltliche Wahrheit sich so berühren, dass sie zusammengehen, wenn es auch nicht immer geschieht. Wenn sie als getrennt aufgefasst werden, ergeben sich zwei verschiedene Wahrheitsbegriffe, die nicht unbedingt etwas mit- einander gemeinsam zu haben brauchen. Dies führt auf die Frage, ob die Trennung der formalen von der inhaltlichen Wahrheit berech- tigt ist.
Die formalen Wahrheiten bedeuten, wie wir geschen haben, der Form nach wahre Aussagen, zunächst solche, die nicht mit den Ge- setzen des Widerspruchs und der Identität in Konflikt geraten.
* Logik, 5.56.
36 J. E. SALOMAA. BXXIILı
Derartige Wahrheiten können auf willkürliche Weise beliebig viele konstruiert werden. Wenn das Gesetz des Widerspruchs als ent- scheidend angesehen wird, wären von den formalen Wahrheiten ausgeschlossen, also falsch, nur diejenigen Aussagen, die in die Form: »A, das B ist, ist nicht B», eingekleidet werden können. »Mein Tisch, der schwarz ist, ist weiss» oder »Mein schwarzer Tisch ist weis» und andere ähnliche Aussagen würden dann nicht unter die formalen Wahrheiten fallen. Dagegen wären »Wahrheiten» z.B. Aussagen wie folgende: »Der Papst wohnt in Helsinki», »Mein Tisch ist weisse (obgleich er in Wirklichkeit schwarz ist), ja sogar »Die Summe der Winkel im Dreieck ist gleich drei Rechten» usw. bis ins Endlose. Nichts würde natürlich daran hindern, auch solche Aussagen als Wahrheiten zu bezeichnen. Es fragt sich hier nur, ob es zweckent- sprechend ist, das Gebiet der Wahrheit so weit zu fassen, dass der- artige Aussagen zu den Wahrheiten gehören. Denn den genannten und anderen ähnlichen Aussagen fehlt gerade diejenige Eigenschaft. die schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch für die Wahrheit charakteristisch ist, nämlich Gültigkeit in Bezug auf den Gegenstand, den sie meint. Der allgemeine Sprachgebrauch erblickt somit das Wesen der Wahrheit zunächst in ihrer inhaltlichen Seite. Wenn nun auch Aussagen, die in dieser Hinsicht den vom allgemeinen Sprach- gebrauch anerkannten Wahrheiten entgegengesetzt sind, als Wahr- heiten bezeichnet werden könnten, bedeutete es eine Verdunkelung des Wahrheitsbegriffs. Wenn auch als Merkmal solcher Wahrheiten das Formale angeführt wird, ist es nicht geeignet, die Sache zu erhellen, da das Wort »formab auf mancherlei Art ausgelegt werden kann. Um solehen Unklarheiten aus dem Wege zu gehen, wäre es das Beste, Urteile wie die erwähnten Aussagen nicht als »Wahrheiten» zu be- zeichnen, und also auch nicht von einer formalen Wahrheit zu reden. Die in Frage stehenden Aussagen könnten nur als formal richtige Urteile bezeichnet werden.!
ı Von solchen Aussagen kann man nur die Bestimmungen »richtig» oder sunrichtigs, nicht »wahr» oder »falsch» gebrauchen. Ausser der logischen sRich- tigkeit» kann auch noch von einer grammatischen Richtigkeit gesprochen
BXXIIlı Das Problem der Wahrheit. 37
Der Begriff der formalen Wahrheit ist allerdings nicht notwendi- gerweise nur im oben erwähnten Sinne zu verstehen. Sein Inhalt kann auch enger begrenzt werden. Dies ist der Fall, wenn for- male Wahrheit dasselbe wie analytische Wahrheit bedeutet, zum Unterschiede von der synthetischen oder inhaltlichen Wahrheit, wobei die Begriffe des Analytischen und Synthetischen in dem von Kanr dargestellten Sinne zu verstehen sind. Hiernach wäre die ana- lytische Wahrheit dasselbe wie Vernunftwahrheit und die syntheti- sche Wahrheit dasselbe wie Erfahrungswahrheit. Anders gesagt, in ersterem Falle wird mit dem Subjekt eine Eigenschaft verbunden, die schon zum Begriff des Subjekts gehört, in letzterem Falle wird dem Subjekt ein Merkmal zuerteilt; das noch nicht unbedingt zu seinem Begriff gehört. Ein Beispiel der analytischen Wahrheit wäre: »Das Dreieck hat drei Winkel und der synthetischen: »Dieser Tisch ist schwarz».
An dieser Stelle kommt es nicht darauf an, näher auf den Unter- schied zwischen dem Analytischen und dem Synthetischen und auch darauf einzugehen, inwiefern es berechtigt ist, das Analytische, in dem oben erwähnten Sinne, dem Vernünftigen oder Logischen gleich- zustellen. Hier handelt es sich‘ nur darum, was diese Einteilung mit Rücksicht auf den Wahrheitsbegriff bedeutet, vorausgesetzt dass sie richtig wäre. Analytisch wäre eine Wahrheit, die ohne weiteres aus dem Begriff ihres Gegenstandes abgeleitet werden kann, die also schon zu den Eigenschaften des Gegenstandes gehört, obgleich sie vielleicht nicht unmittelbar wahrzunehmen ist. Durch eine Aussage, die eine analytische Wahrheit enthält, wird nichts wesentlich Neues über den in Frage stehenden Gegenstand festgestellt, wie es hin- gegen bei einem synthetischen Urteil der Fall ist. Am besten erhellt den Charakter der analytischen Wahrheit ein Schluss, der logisch richtig ist und sich gleichzeitig auf richtige Prämissen gründet. Eine
werden, die nicht mit ersterer zusammenfällt. Vgl. über die grammatische Richtigkeit K. VossLers Untersuchung »Grammatik und Sprachgeschichte oder das Verhältnis von 'richtig’ und ’wahr’ in der Sprachwissenschaft», Logos 1, S. 83 ff. :
38 J. E. SALOMAA. BXXII,ı
solche Wahrheit enthält z. B. die Aussage: »Peter ist sterblich», wel- che auf die Prämissen »Der Mensch ist sterblich» und »Peter ist ein Mensch» zurückzuführen ist. Dagegen enthält z. B. die Aussage:» Mein Tisch ist schwarz» eine synthetische Wahrheit, da »schwarz» als Eigenschaft meines Tisches noch nicht zum Begriff des Tisches ge- hört, sondern in Bezug auf diesen eine neue Eigenschaft ist, die meine Erkenntnistätigkeit an ihm festgestellt hat. In beiden Fällen kann man von einer Wahrheit reden; denn diese Aussagen sind hinsicht- lich der von ihnen gemeinten Gegenstände gültig.
Doch kann sich hier die Frage erheben, ob es begründet wäre, auf Grund des Vorhergehenden zweierlei Wahrheitsbegriffe anzuneh- men, den analytischen und den synthetischen, oder ob dieser Unter- schied, vorausgesetzt, dass er richtig wäre — was freilich zu bezwei- feln ist —, hinsichtlich des Wahrheitsbegriffs so entscheidend wäre, dass er auf einen zweifachen Wahrheitsbegriff führte. Meines Er- achtens liegt kein ausreichender Grund dazu vor, da in beiden Fäl- len der Wahrheitsbegriff selber der gleiche ist, und der Unterschied nur die Auffindungsart der Wahrheit oder ihren verschiedenen Inhalt betrifft. Somit könnte man nur von analytischen und synthe- tischen Wahrheiten reden, nicht von der analytischen und synthe- tischen Wahrheit. Der Begriff der Wahrheit ist nur einer. Darin könnten Form und Inhalt unterschieden, oder die einzelnen Wahr- heiten ihrem inhaltlichen Unterschied nach in analytische und syn- tlietische eingeteilt werden. IJoch dies berechtigt nicht, begrifflich voneinander unterschiedene formale und inhaltliche oder analpyti- sche und synthetische Wahrheit anzunehmen. Dies würde den ein- heitlichen und einzigen Begriff der Wahrheit verdunkeln. Von der Wahrheit in des Wortes eigentlicher Bedeutung kann erst dann die Rede sein, wenn sie ihrer Form und ihrem Inhalt nach den an sie zu stellenden Anforderungen entspricht.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 39
V. Die Wahrheit an sich.
Als Ergebnis der bisherigen Untersuchung hat sich herausgestellt, dass die Wahrheit transzendent, absolut und inhaltlich ist. Alle diese Eigenschaften lassen sich auf die bei der Erkenntnis auftretende Wahrheit anwenden, wobei also das erkennende Subjekt immer dabei ist. So bedeutet die Transzendenz der Wahrheit, dass sich der Gegen- stand der Wahrheit ausserhalb des Subjekts befindet, und dass die Erkenntnistätigkeit des Subjekts darauf gerichtet ist. Das Absolute der Wahrheit besagt, dass sie nicht je nach den erkennenden Subjek- ten wechselt, sondern unbedingt gilt. Auch die Anforderung, dass neben der Form auch ein Inhalt zur Wahrheit gehört, kann auf die erkannte Wahrheit bezogen werden und setzt nicht die Ausschei- dung des Subjekts vom Wahrheitsbegriff voraus.
Die erkannte Wahrheit und die Wahrheit an sich.
Wir stehen hier vor einer neuen Frage: setzt die Wahrheit immer unbedingt die Gegenwart eines erkennenden Subjekts voraus, oder ist sie ohne Subjekt und ohne Erkenntnis denkbar? Macht die erkannte Wahrheit schon den Begriff der Wahrheit aus, oder ist dazu noch eine von der Erkenntnis vollkommen unabhängige reine Wahrheit anzunehmen? Kurz gesagt, es handelt sich darum, ob ausser der erkannten Wahrheit noch eine Wahrheit an sich voraus zusetzen ist.
Von dem Standpunkt aus, welcher den immanenten und subjek- tiven Wahrheitsbegriff annimmt, ist selbstverständlich, dass von der Wahrheit nur im Zusammenhang mit der Erkenntnis und in der Beziehung zum erkennenden Subjekt die Rede sein kann. Wenn die Wahrheit von Anfang an als ein Bewusstseinsinhalt des Subjekts aufgefasst wird, ist ohne weiteres evident, dass sie ohne Subjekt nicht denkbar ist. Von diesem Standpunkt aus ist die erkannte Wahrheit die einzig mögliche.
40 J. E.SaALOMAA. BXXIIL:
Auch viele Anhänger des transzendenten Wahrheitsbegriffs beschränken den Wahrheitsbegriff auf die erkannte Wahrheit. So ist es z.B. nach SıawArr fiktiv, von Wahrheiten zu reden, die an sich gelten, und also von niemandem erkannt werden, oder z.B. von Wahrheiten, die über die menschliche Erkenntnisfähigkeit hin- ausliegen. Ebenso betont VoLKELT die Notwendigkeit des Subjekts beim Wahrheitsbegriff.!
Natürlich hindert nichts daran, den Wahrheitsbegriff nur auf die erkannte Wahrheit zu beschränken, wie auch im allgemeinen jede beliebige Sache mit dem Worte Wahrheit bezeichnet werden kann. Dies ist als solches nur eine Frage der Benennung. Etwas anderes aber ist, ob es sachgemäss ist, mit dem Wahrheitsbegriff nur die erkannte Wahrheit zu fassen. Ob diese schon das ganze Ge- biet der Wahrheit umfasst, oder ob sie nicht einmal deren wesentlich- sten Teil ausmacht, ist ein Frage, die besonderer Erläuterung be- darf. Es ist gar nicht schwer einzusehen, dass die ausschliessliche Anerkennung der erkannten Wahrheit auf grosse Schwierigkeiten führt und ihre Ergänzung notwendig macht.
Der Wahrheitsbegriff, den der allgemeine Sprachgebrauch an- wendet, scheint schon vollkommene Unabhängigkeit davon, ob ihn ein Subjekt erkennt oder nicht, und also Geltung an sich zu be- deuten. Wenn z.B. davon die Rede ist, dass jemandem irgend- eine Wahrheit bekannt oder unbekannt ist, ist dies nur so zu verste- hen, dass die Wahrheit als unabhängig davon angenommen wird, ob irgendein Subjekt sie erkennt oder nicht; denn wie könnte man von einer unbekannten Wahrheit reden, wenn nicht gleich- zeitig vorausgesetzt wäre, dass sie gilt, ungeachtet dessen, ob sie von irgendeinem Subjekt erkannt wird. In diesem Sinne ist jeder ge- zwungen, den Wahırheitsbegriff zu gebrauchen. Derselbe Wahrheits- begriff liegt auch allen Aussprüchen zugrunde, welche die Wahrheit als unerreichbar darstellen.
I Gewissheit und Wahrheit, S. 286 f., 310 f., 338. — Ebenso u. a. J. GEYSER, Erkenntnistheorie, Münster i. Westf. 1922, S. 49 f.
BXXIIL„ Das Problem der Wahrheit. 41
Schon der allgemeine Sprachgebrauch in der Wissenschaft und. ausserhalb dieser führt somit darauf, dass die Wahrheit als unabhän- gig davon angenommen werden muss, ob sie von irgendeinem Sub- jekt erkannt wird oder nicht. Nur von dieser Grundlage ausgehend kann ein widerspruchsloser Wahrheitsbegriff erreicht werden. Denn wir haben anzunehmen, dass z. B. die Anzahl der Blätter an irgend- einem bestimmten Baume durch eine genaue Zahl auszudrücken ist, ungeachtet dessen, ob sich jemand die Mühe gegeben hat, jene Blätter zu zählen. Dies kann als Beispiel einer Wahrheit an sich dienen, in einem Falle, wo die entsprechende erkannte Wahrheit ganz und gar fehlt. Ebenso muss angenommen werden, dass Urteile wie »2 + 2= 4» gelten, ungeachtet dessen, ob irgendein Subjekt sie erkennt. Wenn dem nicht so wäre, Tuhte die ganze Mathe- matik auf schwachem Boden. Der Gedanke, dass die Summe der Winkel in einem Dreieck gleich zwei Rechten ist, gilt an sich. . Ebenso gilt die Wahrheit, dass das spezifische Gewicht des Wasserstoffs 0,0695 ist, ungeachtet dessen, ob ein Subjekt es erkennt oder nicht. Es ist nicht grösser und nicht kleiner für das eine erkennende Subjekt als für das andere. Weiterhin muss angenommen werden, dass z.B. das Dasein des Neptuns eine Wahrheit war, schon bevor er entdeckt wurde, ebenso wie es heute eine Wahrheit ist. Das offensichtlichste Beispiel der Notwendigkeit des Begriffs der Wahrheit an sich ist, dass das Gelten von Wahrheiten angenommen werden muss, die heutzutage niemand erkennt, oder welche die Möglichkeiten aller menschlichen Erkenntnisfähigkeit übersteigen. Wie sonst wäre die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Forschung zu erklären, wenn nicht Wahrheiten vorausgesetzt wären, die noch niemand kennt? Die Wahrheit in des Wortes eigentlicher Bedeutung ist nur als derart zu denken, dass sie gilt, unbekümmert darum, ob sie jemand erkennt oder nicht, oder ob'sie jemand denkt oder nicht. Die Wahrheit be- steht nicht nur in den Gedanken, sondern auch ausserhalb dieser. Wenn zur Wahrheit als wesentlich schon die Voraussetzung ihrer Erkenntnis gehörte, würde auch die Wahrheit aus.der Welt ver- schwinden, wenn die Subjekte, die sie erkennen, verschwänden. Sie
42 J. E.SaLoMAaAA. BXXIILı
in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Subjekt zu stellen, würde gle’ch- zeitig ihre Objektivität und Unbedingtheit bedrohen, die, wie wir gesehen haben, zum Wesen der Wahrheit gehören.
Somit kommen wir darauf, dass die erkannte Wahrheit als ihre Grundlage eine Wahrheit an sich voraussetzt. In der Wahrheit an sich ist der wesentliche und grundlegende Begriff zu erblicken, auf den die erkannte Wahrheit sich stützt. Man könnte auch sagen, dass die erkannte Wahrheit eine Unterart der Wahrheit an sich ist und als solche ein engerer Begriff als diese. Denn sie hat die Bezie- hung zum Subjekt als artbildende Eigenschaft, die zur Wahrheit an sich noch nicht gehört. Ihr Gebiet ist enger als das der Wahrheit an sich. \WINDELBAND bringt denselben Unterschied treffend zum Ausdruck, wenn er von der Geltung an sich und von der Geltung für uns spricht.! »Für uns» bedeutet hier ein viel engeres Gebiet als san sich. Allerdings könnte man sich einen Fall vorstellen, bei dem »für uns» und »an sich» zusammenfielen, wenn nämlich eine allwis- sende Intelligenz angenommen würde, die in demselben Augenblick alle möglichen Wahrheiten erkennt. Für eine solche Intelligenz gäbe es keine Wahrheit an sich, die nicht gleichzeitig für sie erkannte Wahrheit wäre. Doch hebt ein solches vorgestelltes Zusammenfal- len der Wahrheit an sich und der erkannten Wahrheit für uns be- grenzte Menschen die Wahrheit an sich nicht auf. Deshalb ist es notwendig, diese Begriffe voneinander zu trennen, damit unter- sucht werden kann, was die reine Wahrheit an sich ist. Die Wahrheit kann als erkannt aufgefasst werden, wenn auch das Erkennen nicht unbedingt zu ihr gehört.
Die Wahrheitundihr Gegenstand.
Da die Wahrheit nicht nurin den Gedanken besteht, da sie als gel- tend gedacht werden muss, unabhängig davon, ob sie von einem Subjekt erkannt wird oder nicht, könnte hieraus geschlossen werden, dass sie in den Gegenständen läge, auf die sie sich bezieht. Doch
! Die Prinzipien der Logik, S. 18.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 43
m —
dies ist keineswegs der Fall. Schon oben haben wir gesehen, dass die Wahrheit Übereinstimmung mit ihrem Gegenstande bedeutet. Sie ist also von ihrem Gegenstande zu trennen. Z.B: sind ein Vogel, der draussen fliegt, ein Baum, der im Garten wächst, »2 +2 = 4 usw. Gregenstände des Erkennens, aber sie können nicht Wahrheiten ge- nannt werden. Man kann ihnen die Bezeichnung »wirklich» oder »unwirklich», aber nicht »wahrn zuerteilen. Dies wird umso klarer, wenn manin Betracht zieht, dass auch Trug und Irrtum Gegenstand des Erkennens sein können. Das Erkennen kann sich auf Gegen- stände wie 22 +2 =», ein »viereckiges Dreieck» usw. richten, die nicht als Wahrheiten angeschen werden können. Die Wahrheit kann nur in Aussagen hervortreten, welche die Erkenntnis über diese Gegenstände feststellt, z.B. in den Urteilen: »» +2 =5 ist nicht richtig, »Ein viereckiges Dreieck ist ein unmöglicher Gegenstand» usw. Die Wahrheit und ihr Gegenstand fallen demnach nicht ein- fach zusammen, wenngleich andererseits die Wahrheit niemals ohne einen Gegenstand gedacht werden kann. Der Gegenstand ist, wie wir schon früher gesehen haben, in Bezug auf die Wahrheit bestim- mend; denn sonst würde man die Aussagen 2 +2 =# und» + 2 = 5» ihrer Wahrheit nach nicht voneinander trennen können. In den Gegenständen selber muss eine Eigenschaft verborgen sein, wel- che die eine wahr und die andere falsch macht. Aber die Gegenstände selber sind nicht wahr und nicht falsch. Die Wahrheit liegt, wie schon LEIBNIZ sagt, in‘ den Gegenständen drin, aber diese sind keine Wahr- heiten.
Um die Beziehung zwischen der Wahrheit und ihrem Gegenstande klarer herauszustellen, ist auch der Gegenstand sbegriff näher zu untersuchen, den ich bisher ganz wie selbstverständlich gebraucht habe. Die Wahrheit setzt iinmer einen Gegenstand voraus, in Bezug auf den sie gilt. Ohne Gegenstand ist also keine Wahrheit denkbar. Andererseits ist der Gegenstandsbegriff so weit zu fassen, dass er alles enthält, auf das eine Wahrheit bezogen werden kann. Dann
u mfasst er die ganze wirkliche und unwirkliche oder die seiende und die nicht-seiende Welt. Ebenso wie ein wirkliches Pferd kann auch
\
AA J. E.SALOoMAA. BXXIILı
in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung ein unwirklicher Pegasus Gegenstand des Erkennens sein. Von der Wahrheit kann im Zusam- menhang mit möglichen Gegenständen, wie z. B. hinsichtlich möglicher Marswesen, die Rede sein, aber auch im Zusammenhang mit unmöglichen Gegenständen, wie in Bezug auf ein »viereckiges Dreieck», können wir von der Wahrheit reden.
Der Begriffder Wirklichkeit.
Das Gebiet der Gegenstände der Wahrheit ist somit sehr weit. In ihren Kreis ist als zugehörig eigentlich alles einzuberechnen, was man denken kann, sowohl das Wirkliche, als auch das Unwirkliche, das Mögliche und das Unmögliche. Aber auch diese Begriffe sind
nicht eindeutig. Schon der Begriff der Wirklichkeit ist vie- len verschiedenen Interpretationen zugänglich gewesen und ist es immer noch. Für das Kind ist sie anders als für den Erwachsenen, im wissenschaftlichen Sprachgebrauch anders als im vorwissenschaft- lichen. Ebenso wird in den verschiedenen Wissenschaften der Be- griff der Wirklichkeit in verschiedenen Bedeutungen angewandt. So bedeutet sie für den Physiker etwas anderes als für den Historiker, sie ist für den Mathematiker anders als für den Philosophen. Ja sogar die verschiedenen Philosophen verwenden den Begriff der Wirk- lichkeit oft in ganz entgegengesetztem Sinne. Dies tritt klar hervor, wenn man z.B. dio Auffassungen eines PLATON und der gegenwärti- gen Positivisten nebeneinander stellt. Die Positivisten sehen die eanze Wirklichkeit in der Sinnenwelt; diese war unwirklich für PLA- ToN, der die Wirklichkeit einzig und allein in der vom Trug der Sin- nenwelt befreiten, »hinter ihr seienden» Welt der immer bestehenden » Ideen» erblickte.
Hier kann es sich nicht um eine Stellungnahme zu allen den ver- schiedenen Auffassungen handeln, die in der Geschichte der Philo- sophie über den Begriff der Wirklichkeit dargestellt worden sind. Ich muss mich in der Hauptsache darauf beschränken, was ich unter diesem Begriff verstehe. Gleichzeitig ist zu bemerken, dass es sich
P 2
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. , 45
hier nur um den Begriff der Wirklichkeit handelt, nicht um ihr Wesen und ihren Charakter, was schon eine metaphysische Frage ist.
Im Gebiete der Wirklichkeit sind mehrere verschiedene Sphären oder Stufen zu unterscheiden. So tritt uns zunächst die Sinnen- oder Aussenwelt entgegen, d.h. diejenige Welt, die wir durch Vermittlung der Sinne erfahren. Dazu sind alle physischen und psy- chischen Erscheinungen zu rechnen. Zu der Sinnenwelt gehören gleicherweise einerseits z. B. der Tisch, an dem ich sitze, die Papiere, die Bücher usw., die auf dem Tisch liegen, und andererseits die Tast- empfindungen, die ich habe, während ich das Papier berühre, meine Gesichtsempfindungen, Gedanken, Gefühle usw. Alle diese und ähnliche Erscheinungen gehören zu der Wirklichkeit, die Sinnenwelt genannt wird. Man könnte sie auch die Welt der Zeit und des Rau- mes nennen; denn in ihr ist alles »jetzt» und »hierm. Mit einem Wort gesagt, in dieses Bereich der Wirklichkeit gehört also alles, was für ein empfindendes Subjekt einmal gewesen ist, jetzt ist oder sein wird.
Viele Denker beschränken die ganze Wirklichkeit auf die Sinnen- welt. So verfahren z. B. die Posttivisten, VAIHINGER U.4. Sie gehen dabei auch ganz konsequent vor, da sie ausser der Sinnenwelt nichts anderes Seiendes mehr anerkennen. Die Sinnenwelt und das ganze Seiende fallen bei ihnen zusammen, so dass die Wirklichkeit, welche die Sinnenwelt umfasst, gleichzeitig auch alles Seiende enthält.
Doch auch viele Vertreter anderer Anschauungen beschränken die Welt der Wirklichkeit auf die Sinnenwelt, wenn sie auch gleich- zeitig die Auffassung haben, dass im Seienden noch andere Bereiche enthalten sind. So verfährt z. B. RicKkeErT, der nur die Sinnenwelt die wirkliche Welt und alles andere Seiende dann »unwirklich» nennt} In der Hauptsache schliessen sich RıckErts Auffassung hierin auch Bauch und Lask an. So erblickt BaucH das Kriterium der Wirk- lichkeit in den Empfindungen.” Ebenso möchte Lask sich bewusst des Sprachgebrauchs des positivistischen Zeitalters bedienen, in-
ı 7. B. System der Philosophie I, Tübingen 1921, S. 102 f. ® Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, 3. 103 f., 120 f., 240 f.
46 J.E. SALoMAA. BXXII,n
dem er den Namen der »Wirklichkeit» nur der Sinnenwelt zuerteilt, der — wie er bemerkt — die früheren grossen Denker diesen Namen vorenthalten haben.!
Hier kann ich mich nicht damit befassen, den Charakter derSinnen- welt und ihre Beziehung zu dem übrigen Seienden zu erörtern, wie auch nicht einmal mit der Frage, ob es noch etwas von der Sinnenwelt unabhängiges, anderes Seiendes gibt, und welcher Art es ist. Ich gehe hier von der Voraussetzung aus, dass die Sinnenwelt mit ihren beständig sich verändernden und wechselnden Erscheinungen noch nicht den ganzen Inhalt des Seienden erschöpft. Ich setze also auch Seiendes voraus, das in sich selber existierend ist, unabhängig von allem Bewusstsein, das also ın re und nicht nur in intelleciuw existiert. Es ist eine Welt, welche die meisten Philosophen für die eigentliche Wirklichkeit gehalten und als Welt der »Ideen», der »Substanz» oder der »Dinge an sich» bezeichnet haben. Allgemein könnte man es metaphysische Wirklichkeit nennen, da es in irgendeiner Form von allen denjenigen Philosophen angenommen wird, die etwas Meta- physisches voraussetzen.
Ich gehe hier also nicht näher auf die Frage ein, ob die meta- physische Welt womöglich Trug oder Irrtum, oder ob sie notwendig ist.2 Ich möchte nur feststellen, dass sie, da sie nun ein- mal angenommen wird, auch in den Inbegriff der Wirklichkeit auf- zunehmen ist, wenn sie den Sinn beibehalten soll, den sie im allge- meinen Sprachgebrauch erhalten hat. Denn die Metaphysiker ver- stehen unter dieser Welt die wirkliche Welt in tieferem Sinne, als die Sinnenwelt ist. Es wäre eine irreführende Auslegung ihrer Leh- ren, wenn man zZ. B. PLAToxs »Ideen», SPINOZAS »Substanzs, KANTS »Dingen an sich», SCHOPENHAUERS »Willen», HARTMANNS »Unbewuss- tem» usw. die Wirklichkeit absprechen wollte. Wenn einmal diese Begriffe in dem Sinne angenommen werden, in dem die betreffenden Philosophen sie angenommen haben, oder wenn überhaupt etwas
! Die Logik der Philosophie, S. 3 f. 2 Diese Frage habe ich eingehender behandelt in meiner Arbeit: Filosofisia tutkielmia (Philosophische Studien), Porvoo 1929, S. 30 ff.
BXXIIlı Das Problem der Wahrheit. 47
Metaphysisches angenommen wird, ist es zugleich auch der Wirk- lichkeit anzureihen, wenngleich diese Wirklichkeit nicht denselben Charakter wie die Sinnenwirklichkeit trägt. |
Doch erschöpfen die Sinnenwelt und die metaphysische Wirklich- keit noch nicht den ganzen Inhalt des Seienden. Es gibt Gegenstände, die weder der einen, noch der anderen zuzurechnen sind. Das ist z.B. bei den sog. allgemeinen und abstrakten Gegenständen der Fall. Zu den beharrlichsten Problemen der Geschichte der Philo- sophie hat die Frage der Unterscheidung zwischen Individuellem und Allgemeinem, zwischen Konkretem und Abstraktem gehört. Wie diese Begriffe auch jeweilig definiert worden sind, immer hat man sie mit vollem Grunde verschiedenen Bereichen des Seins an- gewiesen. So sind z.B. die abstrakten Begriffe das »Rote» und das »Runde» von den besonderen roten und runden Eigenschaften zu unterscheiden, die wir erfahren, wenn wir z.B. einen Apfel sehen. Ebenso bringen z. B. die Begriffe der »Baum» und der »Ton» etwas ganz anderes zum Ausdruck als der Baum, den ich aus meinem Fenster sehe, oder der Ton eines Autos, den ich gerade höre. Die roten und runden Eigenschaften des Apfels und den Ton des Autos erfahre ich ganz unmittelbar. Auch sind sie jetzt anders, als sie gestern waren. Dies ist nicht der Fall mit dem »Roten» und dem »Runden» oder mit dem »Baum» und dem »Ton». Wir können sie nicht unmittelbar er- fahren. Auch sind sie nicht abhängig von Zeit und Raum. Als sol- che kann man sie nicht zur Sinnenwelt rechnen und schwerlich auch ohne weiteres der metaphysischen Welt anweisen. Denn sie existie- ren nicht auf dieselbe Weise wie die metaphysische Wirklichkeit. . In dieser Hinsicht ist alles Wesentliche anzuerkennen, was dem mit- telalterlichen Realismus gegenüber dargestellt worden ist. Für diese Allgemeinbegriffe ist ein drittes Bereich der Wirklichkeit anzuneh- men, das ich im Folgenden als das des Wesens bezeichne.
Die Notwendigkeit dieses dritten Bereichs zeigen auch die Zah- len und überhaupt alle mathematischen Gegenstände. Diese gehö- ren keinem der beiden oben unterschiedenen Bereiche der Wirklich- keit an, weder der Sinnenwelt, noch der metaphysischen Wirklich-
48 J. E.SALOoOMAA. BXXIIIa
keit. Wenn die Mathematik Aussagen über die Zahlen darstellt, z. B. über die Zahl 5, sind sie nicht allein auf die Zahl 5 gerichtet, die im Bewusstsein irgendeines erkennenden Individuums ist, und die als solche der Sinnenwelt angehört, wie auch nicht auf das meta- physische Dasein der Zahl 5, das die Mathematik unberücksichtigt lässt, sondern einzig und allein auf ihr reines Wesen oder auf ihre Bedeutung als solche. Die Zahlen treten auch in der Sinnenwelt auf, soweit sie vorgestellt werden. Als solche gehören sie dieser auf dieselbe Weise an, wie die einzelnen geometrischen Figuren, z.B. die Dreiecke, ihr angelören. Aber wie Gegenstände der Geometrie nicht die einzelnen Dreiecke sind, die an die Tafel gezeichnet werden können, sondern das Dreieck im allgemeinen, das man niemals zeich- nen kann, ebenso sind auch nicht Gegenstände der Algebra die ein- zelnen Zahlen, die im Bewusstsein auftreten können, sondern die Zahlen im allgemeinen. Andererseits kann nicht das Dreieck im allgemeinen und nicht die Zahl im allgemeinen an die metaphysische Wirklichkeit angeschlossen werden, wenigstens nicht, solange von ihnen als Gegenständen der Mathematik die Rede ist. Für die Mathe- matik ist die Existenz ihrer Gegenstände eine durchaus untergeord- nete Frage. Für sie handelt es sich einzig und allein um das Wesen dieser Gegenstände. Sie sucht nach Gesetzen, die für ihre Gegen- stände als solche, wo und wann sie auch immer auftreten, unbedingt gelten. Die Mathematik sucht nur nach dem ewigen Wesen Ihrer Gegenstände, und als solche sind diese in ein drittes Bereich des Scienden oder das des Wesens zu rechnen.
Hier kommt es nicht darauf an, alle die Gegenstände aufzuzäh- len zu versuchen, die in das Bereich des Wesens gehören, sondern nur die Notwendigkeit dieses Bereichs nachzuweisen. Es sei allerdings noch erwähnt, dass die Beziehungen in dieses Bereich gehören. So existieren 2. B. Ähnlichkeit und Verschiedenheit, die zwischen zwei Dingen bestehen, nicht wie die Dinge selber. Die Verschiedenheit z.B. zwischen dem »Roten» und dem »Grünen» existiert nicht wie etwas »Rotes» oder »Grünecs existiert; aber sie ist doch auf irgend- eine Art seiend. Diese Verschiedenheit als solehe Können wir nie-
BXXIIIı Das Problem der Wahrheit. 49
mals erfahren, wie auch nicht die Verschiedenheit, die in dem Worte »mehr» z. B. in dem Satze »Drei ist mehr als zwei» zum Ausdruck kommt. Die Verschiedenheit gründet sich wie alle anderen Beziehun- gen auf das Wesen der Dinge und gehört daher auch dem dritten Bereich an. \
Ist dieses dritte Bereich oder das Bereich des Wesens zur Wirk- lichkeit zu rechnen? Dies ist mehr eine Frage hinsichtlich des Wortes als der Sache, da ihre Beantwortung davon abhängt, ein wie weites Gebiet wir dem Begriff der Wirklichkeit geben wollen. Wenn wir uns hierin nach dem allgemeinen Sprachgebrauch richten, nach dem die Wirklichkeit alles Seiende enthält, also alles, was nicht allein ein- gebildet oder Trug ist, müsste dem Begriff der Wirklichkeit ein so weites Gebiet zuerteilt werden, dass auch das Bereich des Wesens in ihr untergebracht werden kann; denn dieses ist nicht als rein ein- gebildet oder als Trug anzusehen. Die Gegenstände der Mathematik, die Figuren der Geometrie und die Zahlen ‘der Algebra, sind anderer Art als nur eingebildet; sie sind etwas Wirklicheres. Auch kön- nen wir nicht alle Wirklichkeit den Allgemeinbegriffen absprechen, solchen wie der»Baum», das »Rote», der »Mensch», obgleich ihnen nicht nach Art des mittelalterlichen Realismus metaphysische Existenz zugesprochen werden kann. Sie sind wirklich, wenn auch auf andere Art, als es irgendein einzelner Baum, ein rotes Ding oder ein Mensch ist. Ebenso drücken auch die Beziehungen etwas Wirkliches und nicht nur Eingebildetes aus, Gewiss ist es nichts Eingebildetes, dass z.B. 2 =2 oder 5< 7 usw. ist, sondern Wirkliches.!
Die Unwirklichkeit.
Die drei verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit enthalten noch nicht alle Gegenstände der Erkenntnis. Das Erkennen kann auch eingebildete Gegenstände haben, die keinem Bereich der Wirklich- keit angehören. Solche eingebildeten Gegenstände sind z. B.die Ken- tauren und Satyren der Griechen, das Lebenselixir der Alchemie,
ı Vgl. mein Buch The Category of Relation, S. 173 ff.
50 J. E.SALOMAA. BXXII,ı
das Perpetuum mobile, Dinge und Ereignisse, die wir im Traume erfahren, unmögliche Begriffsverbindungen wie z.B. ein »rundes Viereck», ein »gleichseitiges rechteckiges Dreieck» usw. Derartige Gegenstände sind bisweilen zu den psychischen Erscheinungen und somit zur Sinnenwelt in ihrer oben angegebenen Bedeutung gerech- net worden. Zweifellos gehören sie auch dahin, wenn sie lediglich als psychische Erscheinungen in Betracht gezogen werden. Als Bewusstseinsinhalt gehören die Träume, Vorstellungen von Kentau- ren, Satyren usw. ebensogut wie die Vorstellungen von wirklichen Dingen wie Pferden, Böcken usw. zu den psychischen Erscheinun- gen. Doch handelt es sich hier nicht um deren Vorstellungen, son- dern um deren Gegenstände als solche, und dann sind sie von den Ge- genständen der. Wirklichkeit zu trennen. Z.B. ist es charakteri- stisch für die Traumbilder, dass sie von Zeit und Raum vollkommen unabhängig sind, die immer die Stellung der Erscheinungen der Sin- nenwelt bestimmen. Im Traume kann ich nacheinander Ereignisse erleben, zwischen denen in der Wirklichkeit Jahrhunderte vergan- gen sind, oder Gegenstände miteinander verbinden, die in verschiede- nen Weltteilen sind. Darin liegt ihre Unwirklichkeit Ebenso kann das »gleichseitige rechtwinklige Dreieck» nicht in das Bereich des Wesens gehören, weil ihm dort keine Wirklichkeit wie dem »gleichseitigen Dreieck mit Winkeln von 60°% entspricht. Des- halb ist auch jenes unwirklich. Doch trotz ihrer Unwirklichkeit können derartige Begriffe Gegenstände des Erkennens sein. Über sie können allgemeingültige Urteile ausgesprochen werden, wie z. B. Aussagen: »Das Perpetuum mobile ist physikalisch unmöglich», »Das Lebenselixir der Alchemie kann nicht aufgefunden werdenr, »Ein rundes Viereck ist eine Fiktion» usw.
DerBegriffdes Seins. Der Charakter der Gegenstände der Erkenntnis und ihre gegen- seitige Unterscheidung wird klarer, wenn sie noch im Lichte eines anderen Begriffs, nämlich des Seins, betrachtet werden. Sein
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und Wirklichkeit bedeuten im philosophischen Sprachgebrauch oft Korrelatbegriffe, deren Gebiete zusammenfallen. Demnach ist alles Seiende wirklich und alles Wirkliche seiend. Von dieser Auffassung | ausgehend möchte ich im Folgenden untersuchen, ob das Sein auf dem Gebiet der verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit verschie- dene Bedeutungen erhält, und welche diese Bedeutungen sind.
Die Sinnenwelt und das Sein in Beziehung zum Bewusstsein können als Korrelatbegriffe gebraucht werden. Die Wirklichkeit der Sinnenwelt ist nach dieser Auffassung dasselbe wie das Sein in Bezie- hung zum Bewusstsein, einerlei ob dieses dabei als individuelles oder als »Bewusstsein überhaupt» aufgefasst wird. Dies heisst noch nicht, dass die Sinnenwelt, wie viele annehmen, nur Bewusstseinsinhalt wäre, sondern dass zu ihrem Wesen gehört, bewusst zu werden, im Bewusstsein auftreten zu können. Ob sie etwas anderes ist, und was sie ist, gehört nicht mehr der Sinnenwelt an. Solange wir von der Sinnenwelt sprechen, meinen wir immer diejenige Welt, die wir sehen, fühlen, hören usw. können, mit einem Wort gesagt, die wir wahr- nehmen können. Wenn ich ein Ding wahrnehme, bin ich gleich- zeitig davon überzeugt, dass es existiert. Die Existenz des Dinges aber beschränkt sich dann auf die Beziehung zu meinem Bewusst- sein. Ob es auch ausserhalb dieser Beziehung existiert, gehört nicht mehr zu den Wahrnehmungsmöglichkeiten meines Bewusst- seins. Ich kann niemals wahrnehmen, was z.B. der Baum, den ich durch mein Fenster sche, an sich ist, ebensowenig, dass er ausserhalb meines Bewusstseins und unabhängig davon nicht existierte. Wenn wir sagen, dass die Sinnenwelt in Beziehung zum Bewusstsein exi- stiert, heisst dies also nicht, dass sie ihre Existenz vom Bewusstsein erhielte, dass sie also unabhängig vom Bewusstsein gar nicht exi- stierte, sondern es heisst lediglich, dass die Sinnenwelt als Sinnen- welt vom wahrnehmenden Bewusstsein abhängig ist. In diesem Sinne ist die Sinnenwelt Sein als Bewusstseinsinhalt, und mit Rücksicht auf sie trifft BERKELEYS bekannte Formel esse est percıpi zu.
Die metaphysische Wirklichkeit wiederum ist Sein an sich, ohne Beziehuig zu einem wahrnehmenden Bewusstsein. Sie ist Existenz
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in des Wortes vollster und reinster Bedeutung. Die metaphysische Wirklichkeit, mag sie nun als »Substanz», »Willev, »Vernunft», »Un- bewusstes» oder was auch immer aufgefasst werden, ist Sein, un- abhängig von einem wahrnehmenden Subjekt. Schon das Subjekt selber ist, wenn überhaupt eine metaphysische Stellungnahme an- erkannt wird, an sich existierend. Zwischen dem Sein an sich und dem Sein in Beziehung zum Bewusstsein besteht daher der Unter- schied, dass mit letzterem immer die Beziehung zu einem erkennen- den Subjekt verbunden ist, die ersterem fehlt. Ersteres ist trans- zendente, letzteres immanente Existenz.
Das Sein an sich und das Sein in Beziehung zum Bewusstsein haben als gemeinsame Eigenschaft die Existenz. Wasdie Existenz ist, ist logisch schwer zu definieren, da sie über logische Analysen hinausreicht. Sie ist die ursprünglichste Tatsache, die nur mittel- bar erkannt werden kann. Obgleich wir aber gar nicht definieren können, was die Existenz ist, können wir doch Schlüsse aus ihrer Wirkung ziehen. Man könnte deshalb — wenigstens prak- tisch gesehen — sagen, dass alles, was wirkt, existierend ist. An den Wirkungen können wir feststellen, ob Existierendes da ist oder nicht. Wenn ich die Empfindung »rot» habe, schliesse ich, dass sie von etwas Existicerendem herrührt, da ich ohne dieses nicht imstande bin, die Empfindung »rot» hervorzubringen. Auf diese Weise können wir die Wirkungen der Existenz erfahren, nicht sie selber. Demgemäss können wir sie auch nicht beschreiben, sondern nur darauf hinweisen: jede klare Empfindung, das Gefühl der Furcht, der Angst oder irgend- ein anderes Gefühl, die Erinnerung usw. zeugen vom Existierenden. Die Existenz kann nicht geleugnet werden, wenn auch alles ein- zelne Existierende geleugnet würde. Sie gehört zu den Fundamentaäl- tatsachen der Welt, die keiner anderen Begründungen mehr bedarf, und die durch das Urteil »A existiert» ausgedrückt wird.
Die immanente und transzendente Existenz aber ist nicht die ein- zige Form des Seins. Denn das dritte Bereich der Wirklichkeit, das ich oben unterschieden habe, ist nicht existierend, trotzdem aber kann man ihm nicht das Sein absprechen. Z. B. ist die Anzahl der
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Blätter an einem bestimmten Baum nicht existierend, wie die Blät- ter selber, aber ihr Sein kann man nicht leugnen. Das »Runde» und das »Rote» eines Apfels sind nicht existierend, sondern nur »seiend». So gehört zu allen Gegenständen, die dem Wesensbereich angehö- ren, das Sein, wenn sie auch nicht existieren. Sie haben ein »Was», obgleich sie kein »Dass» haben. Dieses Sein könnte man zur Unter- scheidung von der Existenz am besten als »Gelt en» bezeichnen. Das Wesen hat also Geltung, aber keine Existenz.
Wo Existenz ist, ist auch immer Geltung; denn mit allem Existie- renden ist irgendein Wesen oder eine Geltung verbunden. Es kann nichts Existierendes gedacht werden, mit dem nicht wenigstens die Beziehungen der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit verbunden wä- ren. Andererseits ist mit der Geltung oft auch die Existenz verbun- den, wenn es auch nicht unbedingt notwendig ist. Die Geltung ist auch ohne Existenz denkbar. Z.B. mathematische Aussagen ent- halten nichts Existierendes, sondern nur etwas, was das Wesen an- geht. |
Wie wir neben der Wirklichkeit ihr Gegenteil, das Unwirkliche, angenommen haben, ebenso ist als Gegenteil des Seins das »Nicht- Sein» anzunehmen, so dass alle unwirklichen Gegenstände »micht- seiend» sind. Im Begriff dieses Nicht-Seins können, wie auch in dem des Seins, noch verschiedene Bedeutungen unterschieden wer- den, jenachdem was für welche, zum Unwirklichen gehörige Gegen- stände er jedesmal meint. So sind z. B. das physikalische »Perpe- tuum mobile» und das mathematische »viereckige Dreieck» auf ver- schiedene Art unwirklich und unmöglich. Auf diese Unterschiede aber braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.
Die Wahrheitan sich.
Die Analyse der Begriffe von Wirklichkeit und Sein wie auch ihrer Gegensätze bringt ebenfalls in den Begriff der Wahrheit an sich neues Licht. Schon oben ist bereits bemerkt worden, dass sowohl die wirklichen. als auch die unwirklichen Dinge Gegenstände der
54 J. E.E.SALOMAA. BXXIIL Wahrheit an sich sein können, und zwar auf die Weise, dass sich die Wahrheit auf jedes beliebige dieser Dinge richten kann. Gegenstand der Wahrheit kann einerseits ebensogut das Bereich der Sinnenwelt, der metaphysischen Wirklichkeit und des Wesens, wie auch anderer- seits die Welt der Unwirklichkeit oder mit einem Wort gesagt das ganze Universum mit seinen verschiedenen Aspekten sein. Doch ist auch bereits hervorgehoben, dass die Wahrheit und ihre Gegen- stände nicht dieselbe Sache sind. Die Gegenstände sind hinsichtlich der Wahrheiten bestimmend; sie sind nicht Wahrheiten selber. \Wel- cher Art die Beziehung zwischen Gegenstand und Wahrheit ist, bedarf deshalb noch einer eigenen Erklärung. Dabei kommen wir dazu, uns auf die verschiedenen Bedeutungen des Seins zu berufen, die, wie wir oben gesehen haben, in diesem Begriff verborgen sind.
Die Gegenstände der Wahrheit an sich können der Sinnenwelt oder dem Bereich der metaphysischen Wirklichkeit oder somit dem Bereich des Daseins überhaupt entnommen sein. Doch die Wahrheit selber ist keineswegs existierend. So sind die Wahrheiten, die auf die Sinnenwelt bezüglich sind, wie z. B. die Aussagen »Dieses Haus ist aus Stein», »Ich fühle einen Schmerz in meinem Fuss» usw. nicht in demselben Sinne wie »dieses Haus» und »mein Schmerz» existie- rend. Sie sind von diesen schon dadurch unterschieden, dass die Wahr- heiten an sich nicht durch Zeit und Raum bestimmt, sondern von diesen unabhängig sind. Die auf die Sinnenwelt bezüglichen Wahr- heiten haben daher nicht die Existenz, die zu den Erscheinungen der Sinnenwelt gehört. Keine Wahrheit ist »Tatsache». Gewiss kann die Wahrheit — bei den auf die Sinnenwelt bezüglichen Wahrheiten trifft dies immer zu — die Bedeutung haben, dass ein Ding exi- stiert, dass eine Veränderung vorsichgeht, dass zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Orte eine Situation oder eine Beziehung besteht, aber die Wahrheit selber steht über Zeitlichem und Räum- lichem. Von ihrer Entstehung und ihrem Verschwinden kann nicht im zeitlichen Sinne die Rede sein.
Auch ist die Wahrheit nicht metaphysisch existierend. Dies geht schon daraus hervor, dass der Gegenstand der Wahrheit nicht die
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Wahrheit selber ist, so dass der metaphysische Gegenstand nicht die Wahrheit metaphysisch macht. Ausserdem sind nicht alle Wahr- heiten auf die metaphysische Wirklichkeit bezüglich. Denn es gibt, wie wir gesehen haben, auch Wahrheiten, die sich auf die Sinnen- welt, wie auch auf unwirkliche und nichtexistierende Gegenstände beziehen. Somit kommt der Wahrheit an sich keine metaphysische Existenz zu.
Andererseits kann auch die Wahrheit nicht in das Bereich des Unwirklichen oder Nicht-Seins fallen, wie u.a. VAIHINGERS Fik- tionalismus und NIETZSCHES Perspektivismus annehmen. Nach dieser Auffassung wäre die Wahrheit nur ein widersprechender Hilfsbegriff, eine willkürliche Annahme, die demnach neben Begriffe wie »rundes Viereck», »hölzernes Eisen» u.a. zu stellen wäre. Sie wäre, mit einem Wort gesagt, ein Begriff, für den es keine Entspre- chung in der Wirklichkeit gäbe. Die Unmöglichkeit eines solchen Wahrheitsbegriffs ist schon früher nachgewiesen worden, so dass in diesem Zusammenhang nicht näher darauf eingegangen zu werden braucht.
Somit bleibt nur noch die Möglichkeit, dass die Wahrheit in das Bereich des Wesens oder der Geltung gehört, in der Art, wie ich oben diese Begriffe definiert habe. Hiernach ist die Wahrheit wirklich, aber nicht existierend. Sie ist ein beständig fortbestehendes Wesen oder Sosein, das mit allem Wirklichen und Unwirklichen verbunden ist. Wie sehr sich auch die Gegenstände der Wahrheit verändern mögen, die Wahrheit selber ist immer geltend. Dies ist ebensogut bei den Wahrheiten der Fall, die auf die Sinnenwelt und auf die meta- physische Wirklichkeit bezüglich sind, wie bei denjenigen, die sich auf das Unwirkliche beziehen. Die Wahrheit, die z.B. in meiner Aussage »Ein Liter Milch kostet in dem und dem Geschäft in Hel- sinki am 1ö. Sept. 1924 1,75 FM» enthalten ist, gilt trotz des Wandels der Milchpreise immer auf dieselbe Weise wie die möglicherweise zu erreichenden metaphysischen Wahrheiten oder auch Wahrheiten wie 92 +2 =%4 und »Ein rundes Viereck ist eine Fiktion.
Oft ist die Wahrheit auch früher schon in das Bereich der Gel-
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tung einbegriffen worden, wenngleich dieser Begriff gewöhnlich auf andere Art, als er oben definiert wurde, verstanden worden ist. Ihre Unterscheidung vom Existierenden ist mit Gegensätzen wie übersinnlich und sinnlich, Idee und Erscheinung, Form und Inhalt, unbegrenzt und begrenzt, absolut und bedingt, Vernunft und Natur, ewig und zeitlich beleuchtet worden. Mit der Bezeichnung »Geltung» die man seit LoTze anzuwenden begonnen hat, möchte man Deonen. dass die Wahrheit nicht existiert, sondern nurgilt. Dabei wird dem Begriff des Geltens oft auch eine Wertnuance erteilt, ünd auf diese Weise werden die Begriffe von Wahrheit und Wert miteinander ver- bunden.!
LoTze hat den Begriff der Geltung unter dem Einfluss von PLa- Tons Ideenlehre gebildet. Er versteht darunter einen unpsycho- logischen und unmetaphysischen Begriff. Die Vorstellungen sind in unserem Bewusstsein wirklich; sie bedeuten dort eine fortgesetzte Ereignisreihe. Aber der Inhalt der Vorstellungen ist, wenn er von der psychologischen Funktion gesondert betrachtet wird, keine Funktion und auch kein Sein, sondern nur Gelten. So gelten z. B. die Allgemeinbegriffe und die Wahrheiten. Nach LoTzE gehört zu ihnen kein Sein. Doch geht LoTze auf eine nähere Analyse des Geltens nicht ein. »So wenig Jemand sagen kann, wie es gemacht wird, dass Etwas ist oder Etwas geschieht, ebenso wenig lässt sich angeben, wie es gemacht wird, dass eine Wahrheit gelte; man muss auch diesen Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grundbegriff ansehen, von dem Jeder wissen Kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Construction von Bestandthei- len erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthielten.» ?
Amgetreuestenhabensichan LoTze hierin WINDELBAND, RICKERT, Lask und Bauch angeschlossen. Schon WINDELBAND hat dem Be- griff der Geltung eine das ganze Gebiet der Philosophie beherrschende Bedeutung eingeräumt, indem er ihn allem Denkbaren, sowohl
! Vgl. WınpeLsann, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1920,
S. 212 f. 2 Logik, S. 513; vgl. auch S. 519.
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dem Theoretischen, als auch dem Praktischen, zugrundegelegt hat. Ebenso nimmt RicKeErT den Wertbegriff, dessen Eigenschaft seiner Auffassung nach die Geltung ist, auch zur Grundlage der theoreti- schen Philosophie.! Die Geltung bekommt seiner Meinung nach auf diese Weise mehr Inhalt, und das Gebiet der Logik befreit sich aus seiner Isoliertheit und kommt in Zusammenhang mit dem Bereich der Ethik. Auf dieselbe Weise fassen auch LasKk und Bauch den Begriff der Geltung auf.?
Der Geltung als Eigenschaft der Allgemeinbegriffe, der Wahrhei- ten und Werte entspricht, wie bereits bemerkt worden ist, das oben analysierte Gebiet des Wesens. Alle die Gegenstände, die ich in das Be- reich des Wesens einbegriffen habe, gelten. Aber die genannten Den- ker möchten das Gelten von allem Sein und von aller Wirklichkeit schroff trennen. Was dieser Begriff schliesslich bei ihnen enthält, bleibt daher sehr dunkel und unbestimmt. Er ist durchaus abstrakt. Ausserdem trennen sie die Geltung auch vom Subjekt. Wie aber wäre eine Geltung von Wahrheiten denkbar, die jeglichen Seins er- mangeln, von Wahrheiten, die gelten, unabhängig auch von dem Sub- jekt, das ihre Geltung anerkennt? Die Unklarheit dieses Begriffs wird noch dadurch vermehrt, dass er eine bestimmte Wertnuance hat und somit kein rein theoretischer Begriff ist. Und als solcher macht er das ganze Gebiet des Wesens von einem dunklen und un- bestimmbaren Wertbegriff abhängig.
Unabhängig von LoTzeE und in mancher Hinsicht in ganz anderer Form haben die Marburger Denker, CoHEN, NATORP uU.a., den Ge- danken der Geltung entwickelt. Bei ihnen bedeutet das Bereich der Geltung das innere Bereich des Denkens. Ausserhalb des Den- kens gibt es nach dieser Schule nichts. Das Denken erzeugt selber seinen Gegenstand. Es kann also vor dem Denken kein Gegen- stand in Frage stehen in dem Sinne, dass »man dem Denken Etwas
ı Gegenstand der Erkenntnis, S. 229; System der Philosophie I, S. 109, 175. 2 Lask, Die Logik der Philosophie, S. 10 f.; Bauch, Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, S. 42 f., 60 f.
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geben dürfe oder geben könne, was nicht aus ihm selbst gewachsen ist».1
Die Geltung bedeutet also für die Marburger Philosophen ledig- lich ideale Gesetzmässigkeit des Denkens. Die Geltung ist nicht wie bei WINDELBAND und denjenigen, die auf seinem Standpunkt stehen, nicht-seiende Geltung an sich, sondern sieitimmanente und absolute Geltung im Denken. Auch ist das Gelten bei ihnen frei vom Wertmoment. Andererseits aber sind mit dem Gelten, da es nur immanent ist, alle Schwächen einer lediglich Immanentes an- erkennenden Philosophie verbunden, auf die bereits oben hingewiesen worden ist. Ihm fehlt die Berührung mit der transzendenten Wirk- lichkeit.
Die Art, auf die ich oben das Bereich der Geltung aufgefasst habe, kommt HusserLs Auffassung am nächsten. Indem er sich haupt- sächlich auf BoLzanos Lelre von den »Sätzen an sich» stützt, hat auch er den Gedanken der Geltung entwickelt. Er geht von der »Bedeutungseinheit» aus. Unser Urteilsakt ist ein vorübergehendes Erlebnis, das entsteht und vergeht. Dasselbe kann man nicht von dem Inhalt der Aussagen behaupten. Beispielsweise ist der Inhalt der Aussage: »Die Winkelsumme in einem Dreieck ist gleich zwei Rechten» nicht entstehend und nicht vergehend. Sooft. dieses Urteil gleichbedeutend ausgesprochen wird, ebenso oft wird auch aufs neue geurteilt. Die Urteilsakte sind jedesmal neu. Aber das»Wase des Urteils, sein Inhalt, ist immer dasselbe, eine identische geome- trische Wahrheit, die HusserL eine »ideale Bedeutungseinheit» nennt. Diese ist kein wirkliches Ding, obgleich sie in Beziehung zu einem solchen auftreten kann. Aber sie ist nach HUSSERL auch kein psychologischer Inhalt oder ein Bewusstseinsvorgang, sondern ein Sein eigener Art.?
Bei HusserL sind die Wahrheiten, die in das Gebiet der sidealen
ı }1. Conen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 81. — Vgl. auch über das Geltungsproblem im allgemeinen A. Liesent, Das Problem der Geltung, Ber- lin 1914.
?2 Logische Untersuchungen II, 1, S. 42 £.
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Bedeutungseinheiten» gehören, demnach keine existierenden, psycho- logischen oder gedachten Wirklichkeiten, auch keine Abstraktionen vom Existierenden, sondern sie sind unabhängig vom Existierenden und als solche selbständig. Auch sind die Wahrheiten unabhängig von den erkennenden Subjekten. Die Wahrheit bleibt immer das, was sie ist. Sie bewahrt immer ihrideales Sein. Sie ist nicht irgendwo im Leeren, sondern als »Geltungseinheit» im zeitlosen Reiche der Ideen. Die Wahrheit gehört in das Reich des absolut Geltenden, in dem wir alles unterbringen, über dessen Geltung wir uns klar gewor- den sind.! Ausser den Wahrheiten gehören hierher auch die logischen und mathematischen Gesetze. Husserıs Auffassung vom dritten Bereich des Seins oder der Geltung unterscheidet sich z.B. von der Auffassung, die durch die Badener Schule vertreten ist, dadurch, dass er das Gelten nicht dem Sein gegenüberstellt, sondern für eine bestimmte Art des Seins hält.? Das Ideale der Bedeutung kann sich auch mit dem Realen verbin- den, so dass diese keine Gegensätze, sondern Korrelatbegriffe sind.? Die bisherige Untersuchung des Begriffs der Wahrheit an sich hat gezeigt, dass die Wahrheit an sich nicht im Subjekt und auch nicht im Objekt liegt, sondern dass sie dem Bereich des dritten Seins oder der Geltung angehört. Mit Geltung möchte ich, in dieser Hinsicht mit HusserL zusammengehend, eine Art des Seins, nicht sein Gegenteil, zum Ausdruck bringen. Wenn die Wahrheit an sich nicht als seiend gedacht wird, ist sie durchaus ein leerer Be- griff. Dann bleibt die Wahrheit sozusagen in der Luft hängen und vollkommener Relativität überlassen. Denn das Entscheidende beim Begriff der Wahrheit an sich besteht gerade darin, dass die Wahrheit unabhängig davon, ob sie erkannt wird oder nicht, Wahrheit ist. Andererseits aber kann sie nicht von ihren Gegenständen getrennt werden, so dass sie nichts mit ihnen gemeinsam hätte. Sie ist, wie wir gesehen haben, durch die Gegenstände bestimmt. Als bisheriges
ı Ebenda I, S. 129 f. 2 Ebenda II, 1, S. 101. ® Ebenda, S. 102; vgl. auch II, 2, S. 125 f., 199, 244.
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Ergebnis können wir also sagen, dass die Wahrheit diejenigen Sei- ten der Gegenstände bedeutet, die auch den Subjekten erscheinen können — die es aber nicht notwendigerweise brauchen —, in denen sich somit die subjektive Welt mit der objektiven vereinigen kann. Die Wahrheit ist geltend; d.h. auf bestimmte Weise in den Grgen- ständen seiend, wenn sie auch nicht, wie einige ihrer Gegenstände, existierend ist.
Auf eine Eigenschaft der Wahrheit an sich möchte ich hier noch hinweisen, um ihre Stellung im Bereich der Geltung aufzuklären. Wir haben gesehen, dass die Wahrheit an sich geltend ist, dass aber nicht alles Geltende Wahrheit ist. In das Bereich der Geltung gehö- ren auch, worauf oben bereits hingewiesen worden ist, alle Allgemein- begriffe, wie der »Mensch», die »Kirche, die »Tugend», alle geometr'- schen Figuren usw. Bisweilen sind auch diese zu den Wahrheiten gerechnet worden. So tritt z. B. LEIBNIZ für die Einteilung der B+- eriffe in wahre und unwahre ein, indem er diejenigen Begriffe für wahr hält, die den wirklichen oder möglichen Gegenständen ent- sprechen, und für unwahr diejenigen, die den unmöglichen Gegen- ständen entsprechen. Gegen diese Einteilung der Begriffe kann je- doch bemerkt werden, dass alle Begrilfe den Gegenständen entspre- chen, die wirklich Gegenstände der Begriffe sind. Auch die für die Wirklichkeit unmöglichen Begriffe wie »hölzernes Eisen», »goldener Berg» usw. entsprechen ihren Gegenständen. Die Begriffe als solche kann man noch nicht wahr oder unwahr nennen. Wenn wir den Be- griffen diese Bestimmungen geben, sprechen wir nicht mehr allein von Begriffen, sondern wir setzen sie zu anderen Begriffen in Be«- ziehung. Wenn wir z.B. sagen, dass ein »gleichseitiges Dreieck mit Winkeln von 60% wahr ist, da es einem wirklichen Gegenstand entspricht, und dagegen ein »gleichseitiges rechtwinkliges Dreieck» unwahr ist, da es einem unmöglichen Gegenstand entspricht, gehen wir schon über diese Begriffe hinaus und setzen sie zu anderen Begrif-
ı Philosophische Werke III, Philosophische Bibliothek Bd. 69, Leipzig
1915, S. 290. — Dieselbe Auffassung vertritt auch u.a. M. ParAcyı, Die Logik auf dem Scheidewege, Berlin 1903, S. 77 f.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 61 fen in Beziehung. Dann stellen wir, mit einem Wort gesagt, schon Urteile dar. Ersteres Urteil kann man z. B. in die Form kleiden: »Ein gleichseitiges Dreieck mit Winkeln von 60° ist möglich» und letz- teres: »Ein gleichseitiges rechtwinkliges Dreieck ist unmöglich». Die Wahrheit liegt dann in der Beziehung, die durch jene Urteile ausge- drückt wird, und nicht in den einzelnen Begriffen.
Die oben erwähnten Beispiele zeigen schon, dass die Wahrheit nicht in den einzelnen Gegenständen, sondern in deren Beziehun- gen untereinander liegt. Jede einzelne Wahrheit, mag ihr Gegen- stand nun dem Bereich des Wirklichen oder des Unwirklichen an- gehören, drückt immer irgendeine Beziehung aus, die zwischen den Gegenständen besteht. Auf diese Weise drückt z.B. die Aus- sage »Rot ist nicht Grün» die Verschiedenheit zwischen dem Roten und dem Grünen aus, die Aussage »Der Wind schüttelt den Baum» die Kausalbeziehung zwischen Wind und Baum, die Aussage »Das Unglück geschah um 5 Uhr die Gleichzeitigkeit zwischen dem Unglück und dem angegebenen Zeitpunkt usw. Wenn der Begriff der Wahrheit an sich angenommen wird, kann dies also nur auf Grund der Voraussetzung geschehen, dass auch die von der Wahrheit ge- meinten Beziehungen unabhängig von dem Subjekt, das sie erkennt, gelten.!
! Siehe The Category of Relation, S. 165 ff.
ZweiterAbschnitt. Die Erkenntnis der Wahrheit.
I. Vorbereitende Bemerkung.
Gegenstand dieser Untersuchung ist bisher nur der Begriff der Wahrheit gewesen. Ich habe zu analysieren versucht, was begrifflich zu verstehen ist unter der Wahrheit, um die sich alle Philosophie dreht, wenngleich man sich um deren genaue Definition selten auch nur bemüht hat. Die in der Geschichte der Philosophie auftretenden zahlreichen Begriffsverwirrungen hinsichtlich des Wahrheitsbegriffs sind letzten Endes darauf zurückzuführen, dass zwischen der Wahr- heit und ihrer Erkenntnis oder zwischen dem Ziel der Erkenntnis und der Erkenntnis selber kein Unterschied gemacht worden ist, sondern dass man unter Wahrheit ihre Erkenntnis verstanden und somit die Eigenschaften letzterer ohne weiteres auf erstere übertra- gen hat. Daher ist leicht zu verstehen, dass man z. B. auf Grund der relativen und immanenten Erkenntnis angenommen hat, dass “die Wahrheit selbst relativ und immanent sei. So hat man schliess- lich allen festen Boden unter den Füssen verloren und ist auf Will- kürlichkeiten oder in extreme Unsicherheit geraten.
Die Erläuterung des Begriffs der Wahrheit bedeutet noch keines- wegs die Lösung der Frage, wie die Wahrheit erkannt werden kann, oder ob sie überhaupt erkannt werden kann. Sie lässt die Erkenntnis- frage immer noch vollkommen offen. Der Begriff der Wahrheit bedeutet das Ziel der Erkenntnis, aber damit sind noch nicht die Mittel zur Erreichung dieses Zieles angegeben. Dies ist eine Frage für sich, die ihrer eigenen Erklärung bedarf. Unser Problem ist
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nunmehr, ob die Wahrheit in der Erkenntnis auftreten kann, und inwieweit und in welcher Form sie darin auftritt. Während wir bis- her die Wahrheit an sich untersucht haben, richtet sich jetzt unsere Untersuchung auf die erkannte Wahrheit und auf ihre Beziehung zur Wahrheit an sich.
Wir haben oben gesehen, dass zwischen der Wahrheit an sich und der erkannten Wahrheit der Unterschied besteht, dass die Wahr- heit an sich ungeachtet dessen, ob irgendein Subjekt sie erkennt oder nicht, gilt, während dagegen die erkannte Wahrheit immer ein erkennendes Subjekt voraussetzt, das sie erkennt. Dieser Unter- schied könnte auch so ausgedrückt werden, dass die Wahrheit an sich nur geltend ist, während die erkannte Wahrheit ausserdem noch existierend ist. Eine erkannte Wahrheit tritt immer im Bewusstsein eines Individuums auf. Sie existiert also in demselben Sinne wie die Vorstellungen, Gefühle, Willensregungen .oder die psychischen Er- scheinungen überhaupt. Allerdings gehört die Existenz nicht zu ihrem Wahrheitscharakter als solchem, sondern ist als ein Zusatz- faktor aufzufassen, der, sobald es sich um die Wahrheit handelt, eliminiert werden kann. Dagegen bedeuten Bewusstsein und im Bewusstsein sein entscheidende Faktoren, wenn die Erkenntnis in Frage konımt.
II. Über die Urteile.
Eine erkannte Wahrheit kann nur in der Form eines Urteils auf- treten. Dies hat seit ARISTOTELES zu den loc communes der Philo- sophie gehört. Schon ArısTOTELEs nämlich erkannte, dass wahr und falsch nur als Merkmale von Urteilen und niemals von einzelnen Vorstellungen oder Begriffen angewandt werden können. Und das- selbe haben die meisten der späteren Logiker hervorgehoben.! Wenn
ı Nur die Pragmatisten, VaıuınGer und einige andere wie z. B. M. Pııa- cyı, Die Logik auf dem Scheidewege, S. 77 f., bilden hier eine Ausnahme, in- dem sie auch im Zusammenhang mit den Vorstellungen und Begriffen von der Wahrheit reden. Näheres darüber in meiner Arbeit: Nykyajan filosofeja (Philo- sophen der Gegenwart), Porvoo 1924, S. 88 f., 117 f., 310.
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im allgemeinen Sprachgebrauch, ja sogar auch in der wissenschaft- lichen Literatur bisweilen von wahren oder falschen Vorstellungen oder Begriffen geredet wird, liegt dies daran, dass man sich unklarer Begriffe bedient. Wenn ich in meinem Bewusstsein nur die Vor- stellung irgendeines Gegenstandes habe, z. B. »2» oder »4», »Tisch», - »Holz» oder »Glas, habe ich hiermit noch keine Wahrheit erreicht oder mich geirrt. Die Möglichkeit der Wahrheit oder des Irrtums habe ich erst dann, wenn ich diese Vorstellungen zueinander in Be- ziehung stelle, oder wenn ich zu urteilen anfange. Indem ich die Ur- tele +2 =», »2 +2 = 5», »Mein Tisch ist aus Holz» oder »Mein Tisch ist aus Glas» bilde, habe ich eine Wahrheit oder einen Irrtum erreicht. Dann sind die Urteile » +2 =% und »Mein Tisch ist aus Holz» wahr, während dagegen » +2 =5 und »Mein Tisch ist aus Glas» Irrtümer sind. Die Vorstellungen »2», »4», »5», »Tisch», »Glas», »Holz» sind nuch nicht walır oder falsch. Von Wahrheit und Irrtum im Zusammenhang mit Vorstellungen zu reden, kann nur bedeuten, dass z. B. die Vorstellung »Tisch» wahr und die Vorstel- lung »Glas» falsch ist, wenn ich an meinen Schreibtisch denke. Hier- aus aber geht nicht hervor, dass die Vorstellungen selber wahr oder falsch genannt werden könnten. Es kann nur diesen Anschein er- wecken, weil in beiden Fällen bereits geurteilt worden ist. In erste- rem Falle handelt es sich um das Urteil »Mein Schreibtisch ist ein Tisch», in letzterem um das Urteil »Mein Schreibtisch ist aus Glass. In der Tat sind also wahr und falsch Bestimmungen von Urteilen und nicht von Vorstellungen oder Begriffen.
Da die erkannte Wahrheit nur in Urteilen auftreten kann, geht hieraus hervor, dass die Urteile eine zentrale Stellung in der Erkennt- nis einnehmen. Deshalb hat auch eine Untersuchung über den Cha- rakter und die Gültigkeit des Erkennens zunächst auf die Urteile einzugehen. Dies ist auch in der Logik und Erkenntnislehre der Ge- genwart sehr allgemein. Dort geht die Lehre von den Urteilen der Lehre von den Begriffen voraus, da die Urteile den Begriffen gegen-
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über als ursprünglich und als deren Grundlage angesehen werden.! Allerdings ist das Urteilsproblem so weit und so vielseitig, dass ich an dieser Stelle nicht im Einzelnen darauf eingehen kann. Es würde eine eigene Untersuchung erfordern. Ich kann mich nur auf einige Hauptpunkte beschränken.
Die allgemeinste, mit den Urteilen verbundene Eigenschaft ist, dass sie immer irgendeine Beziehung ausdrücken. Während wir ur- teilen, setzen wir die Gegenstände unseres Denkens in irgendwelche Beziehungen, entweder in richtige oder unrichtige. Wenn wir z.B. an Reiten, an den Pegasus, an v9, einen Baum usw. denken, uUr- teilen wir noch nicht. Wenn wir aber an das Reiten als gutes Ver- kehrsmittel auf ungebahnten Wegen, an den Pegasus als poetisches Symbol, an ] 9 —=3 oder daran denken, dass der Baum grün ist usw., dann urteilen wir. Wir setzen die Gegenstände unseres Denkens zueinander in Beziehung. |
Urteilen und Vorstellen sind beim Denken miteinander verknüpft .? Das Urteil ist ohne Vorstellungsbestandteile nicht denkbar. Es fragt sich hier nur, ob diese Vorstellungsbestandteile schon den Charakter des Urteils erschöpfend ausdrücken, oder ob das eigent- liche Wesen des Urteils irgendwoanders zu suchen ist. Und worin besteht dann die Eigentümlichkeit des Urteils? :
ı Vgl. z.B. W. WINDELBAND, Die Prinzipien der Logik, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften I, Tübingen 1912, S. 20 f.; Louis Coutv- RAT, Die Prinzipien der Logik, Ebenda, S. 139; E. Hussert, Logische Unter- suchungen II, A, S. 477 f.;, E. Lask, Die Lehre vom Urteil, Tübingen 1912, S. 49 f. — Siehe Näheres über die Beziehung zwischen Urteilen und Begriffen in meiner Untersuchung The Category of Relation, S. 108 ff.
2 Sıcwart, Logik I, Tübingen 1921, S. 29 sagt hierüber: »Dieses (Urteil) ist ursprünglich einlebendiger Denkacit, der jedenfalls voraussetzt, dass zwei unterschiedene Vorstellungen dem Urteilenden gegenwärtig sind, indem das Urteil vollzogen und ausgesprochen wird, die Subjects- und Predicäatsvorstellung, die sich vorerst nur äusserlich so unterscheiden lassen, dass das Subject dasjenige ist, wovon etwas ausgesagt wird, das Predicat dasjenige, was ausgesagt wird.»
ww
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Viele Denker haben den besonderen Urteilscharakter geleugnet. So z.B. diejenigen, die das Wesen des Urteils im Verbinden und Trennen von Vorstellungen erblicken. Doch nimmt diese Auffas- sung aller Erkenntnis den Boden. Denn wenn das Urteilen nur im Verbinden und Trennen von Vorstellungen bestände, unterläge es ganz und gar der Willkür. Die Urteile wären ebenso unsichere und veränderliche Gebilde wie unsere Vorstellungen. Diese Auffassung steht schon in Widerspruch mit der Bedeutung, welche der all- gemeine Sprachgebrauch dem Urteil gibt. Wenn ich urteile: »Der Affe ist ein Tier, bedeutet dies zwar auch, dass ich meine Vorstel- lungen vom Affen und vom Tier zueinander in Beziehung stelle; aber dieses Verbinden von Vorstellungen ist keineswegs unter dem Urteil zu verstehen. Durch das Urteil soll ein wirklicher Sachverhalt. festgestellt werden, eine Beziehung, die ausserhalb der Vorstellun- gen und unabhängig von ihnen besteht. Gegenstand des Urteils ist also der Inhalt der Vorstellungen oder die von ihnen gemeinten Ge- genstände und nicht die Vorstellungen. So auch soll im erwähn- ten Beispiel behauptet werden, dass der Affe zur Klasse der Tiere gehört, und nicht, dass die Vorstellung vom Affen in das Gebiet der Vorstellungen von den Tieren gehört. Daher kann auch das Urteil nicht die Verbindung (oder Trennung) von Vorstellungen und über- haupt nicht Trennen und Verbinden, sondern nur das Feststellen eines wirklichen Sachverhalts, einer Beziehung, bedeuten. Deshalb ist auch sein Charakter anderswo als im Verbinden.und Trennen von Vorstellungen zu suchen.
Den besonderen Charakter des Urteils neben den Vorstellungen hebt auch Rırnr hervor. In den Vorstellungen und deren Verbin- den und Trennen liegt nach ihm noch nicht das Wesen des Urteils, das im Vergleich zu den Vorstellungen durchaus eine neue geistige Funktion bedeutet. Der eigentliche Akt des Urteilens tritt zu den Vorstellungen hinzu, auf die es gerichtet ist.! Doch RıEaı geht nicht
ı Beiträge zur Logik, Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie Bd. 16, S. 15 f.
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auf eine nähere Untersuchung über den besonderen Charakter des Urteils ein.
HvsserL hat der Klarlegung des Wesens von Vorstellung und Urteil gründliche Untersuchungen gewidmet. Auch er kommt zu dem Resultat, dass Vorstellen und Urteilen ihrem Wesen nach ver- schiedene Vorgänge sind. Ihre Beziehung zueinander ist dieselbe wie die des Nennens zum Aussagen. Dieser Unterschied ist nicht allein grammatisch, sondern wesentlich.!
Viele Denker der Gegenwart erblicken das eigentliche Wesen des Urteils im Beja hen und Verneinen. Schon im Altertum wurde neben der im Urteil enthaltenen Denkfunktion ein Moment des Bejahens oder Verneinens unterschieden, unter dem man die Be- jahung oder Verneinung, Anerkennung oder Ablehnung des Inhalts des Urteils verstand. Besonders die Stoiker betonten dieses Moment des Bejahens oder Verneinens im Urteil. Später unterschied LoTZzE in jedem Urteil neben dem eigentlichen Kern, der Subjekt und Prä- dikat zueinander in Beziehung stellt, ein »Nebenurteib, das den In- halt des Urteils entweder anerkennt oder ablehnt, das also seine Gültigkeit bejaht oder verneint?
Die scharfe Trennung der Bejahung und der Verneinung von dem Inhalt, der bejaht oder verneint wird, gründet sich darauf, dass man im Bejahen und Verneinen einen ganz anderen geistigen Prozess als im Vorstellen erblickt. Dieser Prozess wird für mehr praktisch als theoretisch gehalten; aber dies hat nicht verhindert, dass man in ihm das Grundwesen des Urteils gesehen hat. So hält z. B. WINDELBAND das Moment des Bejahens und des Verneinens für so wesentlich, »dass es geradezu den artbildenden' Unterschied des Urteils unter den übrigen Arten des Vorstellens bezw. des Denkens ausmacht»? Er unterscheidet zwischen »Urteil» und »Beurteilung». Ersteres bringt die Einheit zweier Vorstellungsinhalte zum Aus-
2 Logische Untersuchungen II, 1, S. 477. 2 Logik, Philosophische Bibliothek 141, Leipzig 1912, S. 61. 3 Die Prinzipien der Logik, S. 9.
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druck, letztere die Beziehung des urteilenden Bewusstseins zu ihm. Im Urteil wird immer ausgesagt, dass ein bestimmter Vorstellungs- inhalt (Subjekt) in Beziehung zu einem anderen Vorstellungsinhalt (Prädikat) gedacht wird. In der »Beurteilung» kommt über den Ge- genstand die Billigung oder Missbilligung zum Ausdruck, die das ur- teilende Bewusstsein über ihn fühlt. Hiernach könnte es den An- schein haben, dass es auch Urteile ohne Beurteilung gäbe. Dies ist nicht WINDELBANDS Meinung. Vielmehr betont er, dass zu jedem Urteil Billigung oder Missbilligung gehören, wenn das Urteil wahr oder falsch sein soll. Soweit unser Denken nach Erkenntnis, d.h. nach Wahrheit, strebt, ist immer Billigung oder Missbilligung mit ihm verbunden, welche die Gültigkeit oder die Ungültigkeit der im Urteil auftretenden Vorstellungseinheit zum Ausdruck bringen. Da die Bejahung ohne weiteres klar ist, wird sie sprachlich nicht wie die Verneinung durch ein besonderes Wort ausgedrückt.!
WINDELBAND ist sich dessen vollkommen bewusst, dass Billigung und Missbilligung eine praktische Einstellung dem Gegenstande gegenüber bedeuten. Aber er möchte betonen, dass sie selbst aus rein theoretischen Urteilen nicht entfernt werden kann. So ordnet er schliesslich alles Urteilen Gefühls- und Willensgesichtspunkten unter. Dabei scheint er die Gefühlsseite in den Vordergrund zu stel- len, indem er die Auffassung vertritt, dass Billigung und Missbilli- gung als Gefühl der Zustimmung oder Abweisung, als Evidenz, Glaube, Gewissheitseefühl, Geltungsgefühl usw. auftreten? Auf diese Weise verliert bei ihm die Wahrheit auch ihre rein theoretische Bedeutung und bekommt einen Wertcharakter.
Diese von WINDELBAND in mehreren Schriften dargestellten Gedanken hat RıckeErr im Einzelnen und zugleich in immer schrof- fere Richtung entwickelt. Er fragt nicht, was das Urteil in psvelo- logischer Hinsicht ist, sondern was es für die Erkenntnis bedeutet,
ı Präludien I, Tübingen 1915, S. 29 f., Beiträge zur Lehre vom negatıven Urteil, Tübingen 1921 (Sonder-Abdruck aus Strassburger Abhandlungen zur Philosophie Eduard Zeller zu seinem siebzigsten Geburtstage 1884), S. 169 f.
? Die Prinzipien der Logik, S. 9 f.; Präludien I, S. 31 f.
B XXIII Das Problem der Wahrheit. 69
was es leistet, oder also nach seiner logischen Bedeutung. Im Urteil erblickt er vor allen Dingen eine aktive Eigenschaft, die es vom passi- ven Vorstellen unterscheidet. »Solange Vorstellungen nur vor- gestellt werden, kommen und gehen sie, ohne dass wir uns um sie kümmern. Sie gehen uns dann nichts an. Sie sind uns gleichgültig. Aber, wie wir etwas entweder begehren oder verabscheuen, wenn wir wollen, so stimmen wir einem Etwas entweder zu oder weisen es ab, wenn wir urteilen.»2 RıcKErT behandelt das Urteil als Frage und Antwort. Jedes wirkliche Urteil hält er für eine Aussage, die eine Antwort auf eine gestellte Frage gibt. Er gibt zu, dass dies psychologisch nicht der Fall ist. Denn die Aussage liegt zeitlich vor der Frage. Es gibt auch mehrere Urteile, die tatsächlich keine Ant- worten enthalten. Trotzdem aber kann im logischen Sinne die Aus- sage in Frage und Antwort zerlegt werden, da das Problem (die Frage) immer vor der Lösung (der Antwort) existiert. Dann kann die Frageseite des Urteils dahin formuliert werden, dass sie bereits alle vorstellungsartigen Bestandteile des Urteils enthält, und die Antwort kann nur entweder »ja» oder »nein» sein. In Bejahung und Verneinung konzentriert sich alles wesentlich Urteilsmässige. Hierin erblickt RiCKErT das eigentliche Wesen des Urteils.?
RickErT beschränkt alle Erkenntnis auf die Urteile und dann auf ihr eigentliches Wesen, auf die Bejahung oder die Verneinung. Die Vorstellungen enthalten noch keine Erkenntnis. Erst die Bejahung oder die Verneinung macht aus den Subjekt- und Prädikatvorstel- lıngen ein Urteil. Das Ergebnis hieraus fasst RıcKERT in einen Satz zusammen: »Der eigentliche Erkenntnis a k t besteht im Bejahen oder Verneinen, das theoretische Subjekt ist mit Rücksicht auf seine Erkenntnisleistung und seinen theoretischen Sinn stets als ein be- jahendes oder verneinendes Subjekt zu denken.»®
1 Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 165.
2 Ebenda, S. 153 f.: »Dürfen wir in jedem Urteil, soweit sein Leistungs- begriff in Betracht gezogen wird, eine Antwort auf eine Frage sehen, sskann der eigentliche Urteilsakt nur eine Bejahung oder Verneinung bedeuten.»
3 Ebenda, S. 163.
70 J. E. SALOMAA. BXXIIL,„
Indem er Erkennen und Urteilen als Bejahen oder Verneinen definiert, verzichtet RICKERT wie auch WINDELBAND auf die Selb- ständigkeit des Erkennens oder auf das »reine» Erkennen und fasst das Erkennen als willens- und gefühlsartig. Das in der Bejahung ausgedrückte Billigen und das in der Verneinung ausgedrückte Miss- billigen bedeutet bei ihm immer das Billigen oder Missbilligen irgend- eines Wertes. Von der Verwandtschaft des Urteilens mit dem Willen und dem Gefühl kommt Rıckerr schliesslich darauf, dass auch das rein theoretische Erkennen Stellungnahme den Werten gegen- über ist. Erkennen und Urteilen ist somit immer Werten.!
Auch Lask erblickt im Bejahen und Verneinen den wesentlichen Charakter des Urteils. Das Urteil bedeutet bei ihn die Erklärung von irgendetwas als wertvoll oder wertlos, also eine Entscheidung über den Wert oder Unwert irgendeiner Sache?
Die Lehre von der Bejahung oder Verneinung als wesentlicher Eigenschaft des Urteils führt aber auf grosse Schwierigkeiten. So sind schon manche Denker dem wesentlichen Unterschied zwischen Bejahung und Verneinung im Urteil entgegengetreten und der Mei- nung gewesen, dass alle Urteile im Grunde bejahend oder in solche zu verwandeln sind. So scheint schon ARISTOTELES die Sache auf- gefasst zu haben? Das verneinende Urteil ist kein ursprüngliches, sondern ein sekundäres. Es ist ein Urteil über ein Urteil.* Es setzt
! Ebenda, S. 165 f., 179, 182, 184, 193, 196, 239, 257, 379.
2 Die Lehre vom Urteil, S. 16, sagt Lask: »Der Urteilssinn ist entsprechend ein positiver oder ein negativer, ein mit dem Ja oder Nicht behafteter Sinn, d.h. ein Gebilde, in dem ein Gefüge als mit Wert oder Unwert ausgestaltet er- scheint.» Vgl. auch S. 21 f., 76, 154, 164, 179, 182, 186 f. — Auch Jurius Berc-
MANN, Die Grundprobleme der Logik, Berlin 1895, S. 75 f. hält das Urteil für Bejahung oder Verneinung. |
3 Siehe W. Lewınsoun, Zur Lehre von Urteil und Verneinung bei Arisio- teles, Arch. f. Geschichte der Philosophie, N. F. XVII, S. 209 f.
3 Logik I, S. 158 sagt Sıcwart: »Die ‘Verneinung richtet sich immer gegen den Versuch einer Synthesis, und setzt also eine irgendwie von aussen herangekommene oder innerlich ent-
BXXIIL,„ Das Problem der Wahrheit. 71
immer ein bejahendes, oder wie SIGWART sagt, ein »positivess Urteil voraus. Die Verneinung wird mit den eigentlichen drei Bestand- teilen des positiven Urteils (Subjekt, Prädikat und dem Gedanken ihrer Einheit) als vierter Bestandteil verbunden, der das gedachte Urteil aufhebt: dem Urteil »A ist B» setzt es ein »Neinb entgegen. Auf ähnliche Weise erklärt auch WunDT, dass die Ver- neinung immer so aufzufassen ist, dass sie ein Urteil aufhebt. Die verneinenden Urteile können nicht neben die bejahenden gestellt werden, da jedes verneinende Urteil schon ein bejahendes voraus- setzt, mit dessen Aufhebung es seinen Zweck erreicht.? Auch Hörr- DInG betont, dass jedes »Nein» ein (wirkliches oder mögliches) »Ja» voraussetzt. Das Verneinen ist ein rein logisches Zeichen eines Weges, den man nicht gehen kann, und setzt also in dieser Richtung zu unter- nehmende Bemühungen voraus.?
Ich kann hier nicht im Einzelnen die viel erörterte Frage der Ver- neinung analysieren. Soweit ich sehe, lässt sich allerdings den zu- letzt geschilderten Auffassungen gegenüber die Anschauung verteidi- gen, dass beide, sowohl Bejahung, als auch Verneinung, gleicher- weise ursprünglich sind, und sie setzen einander voraus wie Anneh- men und Verwerfen, Anziehen und Abstossen, Lust und Unlust und überhaupt alles Positive und Negative. Allen Urteilen kann man entweder einen bejahenden oder verneinenden Charakter geben. Jedes A kann nämlich entweder durch Erklärung seines Charakters positiv oder durch Ausschliessen alles nicht-A von ihm negativ definiert werden.
standeneZumuthung, Subject und: Predicat zu verknüp- fen, voraus. Object einer Verneinung ist immereinvollzogenes oder versuchtes Urteil, und das verneinende Urteil kann also nicht als eine dem positiven Urteil gleichberechtigte und gleich ursprüngliche Species des Urteils betrachtet werden.»
1 Sıcwarrt, Logik I, S. 162.
2 Logik I, S. 165.
® Der Relationsbegriff, Leipzig 1922, S. 40. — Vgl. auch E. v. HARTMANN, Kategorienlehre, Leipzig 1896, S. 211 f.
72 J. E.SıALOoMAA. B XXIII.
Doch wie auch die Beziehung zwischen Bejahung und Vernei- nung aufgefasst werden mag, so bedeutet dies noch keine Lösung der Frage, ob das eigentliche Wesen des Urteils in der Bejahung oder Verneinung besteht. Denn sie drücken, soweit ich sehe, immer etwas aus, das nicht als zum eigentlichen Wesen des Urteils gehörig ge- rechnet werden kann. Bejahung und Verneinung sind schon selber Urteile und setzen als solche voraus, was sie zu erklären hätten. Denn etwas zu bejahen, heisst dasselbe, wie es als wahr zu behaupten, und etwas zu verneinen, es als falsch zu behaupten. Behaupten und Ur- teilen sind hier dasselbe. Sıgwarr hatte recht, als er die Verneinung für ein »Urteil über ein Urteil» hielt, und VAIHINGER, als er sie tref- fend als ein »sekundäres Urteil» definierte! Doch sind die gleichen Definitionen auch für die Bejahung zutreffend, wenn sie in einem Urteil besonders hervorgehoben werden soll. Denn mit ebenso gu- tem Grunde ist die Bejahung ein »Urteil über ein Urteil oder ein sekundäres Urteil wie die Verneinung. Weder die Bejahung, noch die Verneinung gehört zum logischen Wesen des Urteils. Sie tref- fen noch gar nicht das eigentliche Wesen des Urteils, das unabhängig davon ist, ob es bejaht oder verneint wird. Denn das Urteil geht immer darauf aus, einen bestimmten Sachverhalt darzustellen, eine Beziehung, die weder durch Bejahung, noch durch Verneinung in etwas anderes, als es ist, verwandelt werden kann.
Die sekundäre Bedeutung der Bejahung und Verneinung in den Urteilen tritt auch darin hervor, dass sie sogar in demselben Urteil leicht gegeneinander ausgetauscht werden können. Ihr Unterschied ist daher vielfach nur grammatisch, wie LosskıJ3 bemerkt hat.” Er weist z. B. darauf hin, dass das Urteil »Wenn 6 durch 2 dividiert wird, bleibt kein Rest», das die üblichen logischen Lehrbücher für vernei-
nend halten, leicht in die grammatisch bejahende Form, gebracht werden kann: »6 kann durch 2 geteilt werden, so dass die Teilung auf- geht». Ebenso kann ein verneinendes Urteil in einem nach der drit-
! Die Philosophie des Als Ob, S. 593. 2 Die logische und die psychologische Seite der bejahenden und verneinen- den Urteile, Logos III, S. 327 ff.
B XXIIl,ı Das Problem der Wahrheit. 73 ten syllogistischen Figur gezogenen Schluss im Sinne eines be- jahenden auftreten: »Die Muhamedaner sind Monotheisten» — »Die Muhamedanersind keine Christen» — also»Manche Nicht-Christen sind Monotheistens, wobei das Urteil »Die Muhamedaner sind keine Chris- ten» im Sinne eines bejahenden Urteils gebraucht wird. Deshalb bemerkt auch Baucu mit Recht, dass man eigentlich nicht von ver- neinenden (oder bejahenden) Urteilen, sondern nur von Sätzen reden kann.!
Dass in der Bejahung und Verneinung nicht das eigentliche We- sen des Urteils hervortritt, geht auch daraus hervor, dass Bejahung und Verneinung immer im Prädikat untergebracht werden können, wie Wunpr mit Rücksicht auf die Verneinung betont.” Im Urteil kommen immer S und P und ihre Beziehung zueinander vor, die so auftritt, dass S entweder P oder Nicht-P erfordert. Die Verneinung (oder Bejahung) richtet sich daher nicht auf das Urteil als Ganzes, sondern nur auf sein Prädikat. Beispielsweise enthält das Urteil »Der Tisch ist nicht aus Tannenholz» dasselbe wie »Der Tisch ist aus Nicht-Tannenholz», oder dass er aus irgendeinem anderen Material ist. »Nicht» verneint hier nicht das ganze Urteil, sondern nur das -Prädikat. Das Urteil stellt einen Tisch dar, und dass er als aus irgendeinem Material hergestellt gedacht ist, lässt aber vollkommen unbestimmt, aus welchem Material er hergestellt ist. Es gibt nur an, dass der in Frage stehende Tisch nicht aus Tannenholz ist. Es bestimmt nicht, ob er aus irgendeiner anderen Holzart (z.B. aus Kiefer, Birke oder Eiche) oder aus irgendeinem anderen Material, z. B. aus Stein, hergestellt ist. Auch sagt es nicht, ob der Tisch existiert, oder ob er vielleicht nur vorgestellt ist usw. Es ist offensichtlich, dass der Erkenntniswert eines derarti- gen Urteils gering ist, z.B. im Vergleich zu einem anderen Urteil: »Der Tisch ist aus Eiche», das den in Frage stehenden Sachverhalt genau bestimmt. Diese Verschiedenheit im Erkenntniswert, der
124.2.0.,S.73. 2 Logik I, S. 207.— Vgl. auch W. Schuppe, Grundriss der Erkenntnis- theorie und Logik, Berlin 189%, S. 94.
74 J. E. Saromaa. BXXIIL,. durch die Bejahung und Verneinung ausgedrückt wird, wäre nicht zu verstehen, wenn das Wesen des Urteils in Bejahung und Vernei- nung bestände. Dann wären beide ihrem Erkenntniswert nach gleich. Dagegen wird diese Verschiedenheit im Erkenntniswert verständlich, wenn Verneinung und Bejahung einzig und allein als Bestimmun- gen des Prädikats aufgefasst werden; denn Nicht-P ist immer viel unbestimmter als P.
Das Bedenklichste aber an WINDELBANDS, RICKERTSU.a. Urteils- lehre ist, dass sie im Urteil eine praktische Handlung erblicken, eine Entscheidung’des Gefühls oder des Willens über den vom Urteil gemeinten Sachverhalt. ‚Dies bedeutet ein Übersehen des logischen Charakters des Urteils und die Betonung seiner zufälligen psycho- logischen Wirklichkeit. Denn Bejahen und Verneinen sind nur psychologische Funktionen, nicht logische. So kommen auch die genannten Denker dazu, schliesslich einen Standpunkt zu vertreten, zu dessen Vermeidung sie ilıre Lehre formuliert haben: den zufälligen und vorläufigen Charakter des Urteils. Wenn das Wesen des Urteils wirklich in der Billigung oder Missbilligung, im Bejahen oder Ver- neinen bestände, bliebe die Wahrheit des Urteils vollkommen vom Gefühl oder vom Willen des erkennenden Subjekts abhängig: die Wahrheit wäre, was das Subjekt anerkennt, und Irrtum, was es verwirft. Doch liegen die Dinge so, dass viele Urteile gefällt sind und auch fernerhin gefällt werden, die anerkannt worden sind und anerkannt werden, die sich aber trotzdem als falsch erweisen kön- nen, und andererseits können viele Urteile ausgesprochen werden, die verneint werden, die sich aber trotzdem später als wahr erweisen. Dieses alles zeigt, dass das Wesen des Urteils nicht in der Bejahung oder der Verneinung besteht, sondern in irgendetwas anderem. Die Wahrheit des Urteils rührt nicht davon her, ob ich es bejahe oder ver- neine; vielmehr bemühe ich mich, das Urteil zu bejahen oder zu verneinen auf Grund dessen, ob es die Wahrheit enthält oder nicht.
Hiermit habe ich schon eine Eigenschaft berührt, in der ich das eigentliche Wesen des Urteils und gleichzeitig den Charakter erblik- ken möchte, welcher die Urteile von den blossen Vorstellung®n
B XXIII. Das Problem der Wahrheit. 75
trennt: die Urteile können entweder wahr oder falsch sein. Man sieht den Wald vor Bäumen nicht, wenn man das Wesen des Urteils in einer seiner Besonderheiten sucht. Dann ist die Haupteigenschaft des Urteils beiseitegelassen, die schon ARISTOTELES darstellte, indem er das Urteil als »diejenige Rede, der ein Walır- oder Falsch- sein zukommt» definierte.! Gewiss ist, wie schon bemerkt worden ist, allgemein zugegeben, dass die erkannte Wahrheit, nur in den UT- teilen auftreten kann. Gleichzeitig aber ist vergessen worden, dass das Urteil eine Aussage ist, in der Wahrheit oder Irrtum auftreten kann, und dass gerade darin das Wesen des Urteils besteht. Denn alle Urteile, ob sie nun bejahend oder verneinend sind, möchten Wahrheit enthalten. Sie wollen einen bestimmten Sachverhalt, eine Beziehung, feststellen, die ungeachtet der Stellungnalıme des urteilenden Subjekts gilt. In dieser Hinsicht sind die bejahenden und die verneinenden Urteile in derselben Lage. Beide sind positiv. Mit den beiden Urteilen »Mein Tisch ist schwarz» und »Mein Tisch ist nicht grün» möchte ich einen wirklichen Sachverhalt erreichen. Sie enthalten in gleicher Weise Wahrheit, obgleich das eine bejahend und das andere verneinend ist. Ebenso sind beide Urteile: »In meinem Zimmer ist ein Klavier und »In meinem Zim- mer ist kein Ofen» falsch, ungeachtet dessen, dass das eine bejahend und das andere verneinend ist. Die Einteilung der Urteile in wahre und falsche richtet sich überhaupt nicht nach der Einteilung in be- jahende und verneinende Urteile. Das Entscheidende in allen Fällen ist, ob das Urteil Wahrheit enthält oder nicht. Ein bejahendes Ur- teil kann ebensogut einen Irrtum enthalten, wie ein verneinendes Urteil eine Wahrheit enthalten kann. Wenn das Urteil mit seinem Gregenstande übereinstimmt, ist es wahr, wenn es dies nicht tut, ist es falsch.
Wie bereits bemerkt worden ist, enthält das Urteil immer irgend- eine Beziehung. So bringt mein Urteil »Das Haus ist weiss» Subjekt (Haus) und Prädikat (weiss) in eine Inherenz-Beziehung. \Wesent-
ı K. LEwinsoun, 4.2.0., S. 201 f.
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lich bei diesem Urteil ist nicht, dass es zwei Vorstellungen (Haus und weiss) miteinander verbindet, und auch nicht der Umstand, dass ich diese Verbindung bejahe, sondern dass das Urteil sich bemüht, einen wirklichen Sachverhalt zu erkennen. Der wirkliche Sachver- halt ist für mein Urteil bestimmend und mein Urteil strebt danach, sich ihm anzupassen. Dies ist schon daraus zu ersehen, dass mein Urteil falsch sein kann (das Haus kann z. B. gelblich sein). Das Ur- teil setzt also immer irgendeinen wirklichen Sachverhalt, eine Be- ziehung oder, wie ich gesagt habe, eine »Wahrheit an sich» voraus ‘und strebt danach, sie zu erkennen. Man könnte auch sagen, dass das Urteil immer über das Gebiet des subjektiven Bewusstseinszustandes hinausstrebt. Es richtet sich nach den objektiven Beziehungen, indem es sich bemüht, diese Beziehungen als solche zu erfassen, wie sie unabhängig vom erkennenden Subjekt sind. Die wirklichen Be- ziehungen sind für das Urteil bestimmend, ob es nun diese trifft oder nicht. Wenn dem nicht so wäre, könnten wahre und falsche Urteile voneinander nicht getrennt werden. Das Urteil ist wahr, wenn es das in der Wirklichkeit Zusammengehörige als zusammengehörig oder das nicht-Zusammengehörige als nicht zusammengehörig be- urteilt, und falsch, wenn es das Zusammengehörige als nicht zusam- mengehörig oder das nicht-Zusammengehörige als zusammengehörig beurteilt. |
Jedes Urteil setzt daher irgendeine objektive Beziehung voraus, die es erkennen will. Dies hat auch LasK hervorgehoben. Er nennt die gegenständliche Seite des Urteils sein »Sinnfragment».! Doch verzichtet LasK auf den Versuch, den Charakter des Urteils logisch zu definieren, da auch er, wie bereits erwähnt worden ist, das eigent- liche Wesen des Urteilsaktes in der Bejahung oder Verneinung er- blickt. So verlegt schliesslich auch er das Wesen des Urteils einzig und allein ins Psychologische und Praktische und übergeht seine logische und theoretische Bedeutung uder setzt sie wenigstens an die zweite Stelle.2
I Die Lehre vom Urteil, S. 178, 187 £. 2 Lask hebt dies selber hervor. Siehe z. B. Die Lehre vom Urteil, S. 4 f. 7f., 12, 83, 126, 147, 150, 164.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 22
Das Urteil besteht noch nicht in der gegenständlichen Beziehung, sondern in der Erkenntnis dieser Beziehung oder besser gesagt in dem Bestreben, sie zu erkennen. In diesem Sinne ist das Urteil immer auch subjektiv. Dies erklärt, dass das Urteil entweder wahr oder falsch sein kann, während die gegenständliche Beziehung immer bestimmt ist. So ist z.B. mein Urteil: »Die Welt ist endlos» entweder wahr oder falsch — vielleicht bin ich nicht imstande, zu sagen, was in diesem Falle zutrifft —; aber der von ihm gemeinte Sachverhalt selber ist bestimmt. Die Wahrheit oder Falschheit des Urteils liegt schon in der von ihm aus- gesagten Bedeutung und nicht darin, ob ich es bejahe oder nicht. Sein Wahrheitscharakter hängt vollkommen und einzig und allein davon ab, ob mein subjektives Urteil einen objektiven Sachverhalt trifft oder nicht. Das wahre Urteil könnte man somit auch als eine Aussage definieren, in welcher die durch das subjektive Bewusstsein angegebene Beziehung einem objektiven Sachverhalt entspricht, und das falsche Urteil als eine Aussage, in welcher diese Entsprechung nicht auftritt.
Um die subjektive und objektive Seite des Urteils deutlicher herauszustellen, könnte man bei ihm Qualitätund Bedeu- tung voneinander unterscheiden. Unter Bedeutung verstehe ich dabei die gegenständliche Seite des Urteils oder das »Sinnfragment», wie LasK sagen würde. Sie ist vollkommen unabhängig vom Sub- jekt und seinem Urteilsakt. Die Qualität hingegen drückt die Stel- lungnahme des Subjekts zu dem Inhalt des Urteils aus. Sie kann sehr verschieden sein. Mit derselben Bedeutung oder dem Inhalt können viele verschiedene Qualitäten verbunden sein. So kann zZ. B. die Be- deutung des Urteils va als Ursache von b» (z. B. schlechtes Wasser als Ursache von Typhus) in folgenden Formen auftreten: »a ist die Ur- sache von b» oder »a ist nicht die Ursache von b», wobei die Qualität des Urteils als Assertion auftritt, in ersterem Falle als BejJa- hung, in letzterem als Verneinung. Die Qualität der Urteile: »a muss die Ursache von b sein» oder »es ist unsicher, ob a die Ursache von b ist» ist apodiktisch oder problematisch. Auch
78 J. E. SALOMAA. BXXIII:
BL m ln nn nn LIU LI eu nn
kann dieses Urteil in den Formen »Ich glaube, dass a die Ursache von b ist» oder »Ich wünsche, dass a die Ursache von b ist» auftreten, wobei seine Qualität Glaubenoder Wünschenist. Wie schon aus diesen Beispielen zu ersehen ist — irgendwelche Vollständig- keit habe ich hierbei nicht angestrebt —, ist die Qualität des Urteils davon abhängig, wie geurteilt wird, während seine Bedeutung da- von abhängt, was geurteilt wird. Erst beide zusammen bilden das Urteil, so dass eine Qualität nicht ohne Bedeutung und — soweit vom Urteil die Rede ist — auch eine Bedeutung nicht ohne eine bestimmte Qualität gedacht werden kann. Allerdings kann jede beliebige Qualität mit jeder beliebigen Bedeutung verbunden wer- den. Über Wahrheit und Falschheit des Urteils ist seine Bedeutung entscheidend, während dagegen die Qualität zu erkennen gibt, in welchem Umfange das Subjekt die Wahrheit erkannt hat. Die Bedeutung enthält die Bedingung seiner Wahrheit, während die Qualität den Irrtum ermöglicht. |
Ich verzichte darauf, hier im Einzelnen die Qualitätsarten des Urteils zu analysieren. Es würde zu weit in eine logische Spezial- frage hineinführen, was von der eigentlichen Aufgabe dieser Unter- suchung abführen würde. Allgemein dargestellt kann man sagen, dass die Qualitäten des Urteils in allen den verschiedenen Formen bestehen, in welchen die Stellungnahme des Subjekts zum Inhalt des Urteils auftritt, oder in denen das Subjekt seine Beziehung zur Gültigkeit des Urteils bestimmen kann. Qualitäten des Urteils sind also das, was WunDr »Gültigkeitsformen der Urteile» nennt.! Während aber Wunxpr nur drei solche Gültigkeitsformen unterscheidet, näm- lich das verneinende, problematische und apodiktische Urteil, nimmt JoEL Kants bekannte und scharf kritisierte »Tafel der Urteiler an, nach welcher deren zwölf unterschieden werden.? Selbst wenn man die verschiedenen Arten dieser »Tafel der Urteile» als Qualitäten anerkennen wollte, was allerdings schwer ist, müsste andererseits
! Logik I, S. 200 f. 2 Das logische Recht der kantischen Tafel der Urteile, Kantstudien XXVIl S.298 f.
BXXIIL, Das Problem der Wahrheit. 79
bemerkt werden, dass sie noch nicht alle Qualitäten enthält. Bei- spielsweise scheidet sie die Befehls-, Wunsch- und Fragesätze aus, deren Urteilscharakter die meisten Logiker seit ARISTOTELES ge- leugnet haben, die aber u.a. HusserL meines Erachtens mit vol- lem Grunde zu den Urteilen rechnet.! Die Frage, in welchen verschie- denen Qualitäten ein Urteil auftreten kann, kann ich hier auch aus dem Grunde übergehen, weil ihre Lösung für das Wesen des Urteils, das ich hier zu erklären versucht habe, obnehin von untergeordneter Bedeutung ist.
In der philosophischen Literatur der Gegenwart ist eine lebhafte Diskussion über sie sog. »Werturteile im Gange gewesen, auf die hier eingehender hingewiesen sei, da auf diese Weise auch der Charak- ter des Urteils beleuchtet werden kann. Bei der Werturteilsfrage handelt es sich darum, ob im Wertbereich allgemeingültige Urteile möglich sind, oder ob die Werturteile überhaupt Erkenntnisurteile sind. Bei der Beantwortung dieser Frage sind zwei entgegengesetzte Standpunkte zu unterscheiden, die beide noch verschiedene Varia- tionen aufweisen. Einige Denker möchten die »Werturteile» scharf von den »Existenzurteilen» trennen, indem sie nur letztere zur Er- kenntnis und zur Wissenschaft rechnen. Andere wiederum anerken- nen eine so scharfe Trennung zwischen diesen Urteilsarten nicht, sondern zählen beide zu den logischen Urteilen.
Diejenigen, welche die Werturteile von den logischen Urteilen ausschliessen wollen — und so verfahren die meisten Logiker, die sie nicht einmal erwähnen —, möchten hervorheben, dass man ihnen nicht die Bestimmung wahr oder falsch zuerteilen kann, welche die Kennzeichen der Existenzurteile sind. Sie werden nur als Ausdruck subjektiver Stimmungen und Gefühle angesehen. Einer hält irgend- ein Gedicht, ein Gemälde, eine sittliche Handlung, eine politische Massnahme, einen religiösen Ritus für wertvoll, der andere für gleich- gültig oder wertlos. Selbst die Werturteile eines und desselben Men- schen sind zu verschiedenen Zeiten grossen Veränderungen unter-
ı Logische Untersuchungen II, 1, S. 78, II, 2, S. 9, 207 f., 218 f.
80 J.E.SALOMAA. BXXIIL,
legen. Über sie zu streiten, wäre deshalb ganz müssig. Nach Wahr- heit oder Irrtum der Werturteile zu fragen, ist nach dieser Auffas- sung dasselbe, wie die Frage zu ergründen suchen, ob die Blonden den Dunklen vorzuziehen sind. Allgemeingültigkeit über die Werturteile zu erlangen, ist unmöglich. Deshalb möchte Croce in der philosophischen Terminologie »Werturteib durch »Wertausdruck» ersetzen.! In Verfolgung derselben Denkweise haben Max WEBER und im Anschluss an ihn viele andere die Entfernung der Werturteile aus allen Tatsachenwissenschaften verlangt.
Dieser Auffassung gegenüber kann hervorgehoben werden, dass in den Werturteilen ebensogut wie in den Existenzurteilen danach gestrebt wird, gewisse Tatsachen darzustellen, nämlich die in das Wertbereich gehörigen, alssolche, wie sie sind, so dass auch die Wert- urteile mit dem Anspruch der Wahrheit auftreten. Durch sie wer- den nicht allein subjektive Gefühlszustände, sondern bestimmte gegenständliche Sachverhalte dargestellt. Auch kann nicht geleug- net werden, dass zahlreiche Werturteile eine verhältnismässig grosse Allgemeingültigkeit erlangt haben. Ein wesentlicher Unterschied besteht in dieser Hinsicht zwischen den Werturteilen und den Exi- stenzurteilen nicht. Darüber, dass Wahnsinn, Elend, Unehrlichkeit usw. Unwerte sind, herrscht verhältnismässig grosse Einstimmig- keit. Wenn der Kunstkenner ein Gemälde als, »sschön» beurteilt, kann ein Laie schwerlich das Gegenteil behaupten. Denn mit die- sem Urteil hat ersterer nicht ein rein subjektives Gefühl darstellen. sondern einen objektiven Sachverhalt feststellen wollen. Reine Wertwissenschaften wie Ästhetik und Ethik begnügen sich auch nicht damit, nur irgendwelche Gefühlsäusserungen zum Ausdruck zu bringen, sondern sie versuchen eine wahre Erkenntnis über ihre Gegenstände zu erreichen. Sie bemühen sich, die sachliche Ordnung des Wertbereichs ebenso genau zu erkennen, wie wenn e sich um die Bewegungen der Planeten oder um den Bau der Atome handelte. Ihre Aufzabe ist, ihre Gegenstände auf dieselbe Weise
ı Über die sogenannten Wert-Urteile, Logos I, S. 75.
mn —_i_ ee et, >
BXXIILı Das Problem der Walırheit. 81
zu untersuchen, wie SpıinozA die Affekte untersuchen wollte, »wie wenn Linien, Flächen und Körper Gegenstände der. Untersuchung wären». Die Erkenntnis auf dem Wertgebiet ist eine Tatsache, die schwerlich zu leugnen ist. Wenngleich sie keineswegs in jeder Hin- sicht unumstrittene Allgemeingültigkeit erlangt hat, Ist dies nur ein Mangel, den sie mit aller anderen Erkenntnis teilt. Die Erkennt- nis auf dem Wertgebiet wäre wiederum nicht möglich, wenn die Werturteile nicht mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf- treten könnten. Alles dieses weist also darauf hin, dass sich -die Werturteile ihrem logischen Wesen nach nicht von den anderen UT- teilen unterscheiden. | Die Uneinigkeit, die bei der Auslegung der Werturteile herrscht, findet ihre Erklärung darin, dass zwischen Werten und Wert- erkenntnis, zwischen unmittelbarer Stellunenahme irgend- einem Wert gegenüber und Werturteil kein Unterschied gemacht wird. Irgendeinen: Wert unmittelbar zu erleben, und ihn in einem Wert- urteil als Wert darzustellen, sind zwei verschiedene Dinge. Wenn wir im Wertgefühl einen Wert unmittelbar erleben oder unse- ren Standpunkt ihm gegenüber bestimmen, gehört zu diesem Er- leben als solchem noch keine Erkenntnis. Wir erleben» dabei nur den in Frage stehenden Wert. Ganz anders verhalten wir uns dem Wert. gegenüber, wenn wir ein Werturteil aussprechen, wenn wir Sagen, dass irgendetwas ein Wert ist. Dann »erkennen» wir es als Wert. Wenn wir in unserem Wertgefühl einen Wert erleben, geben wir als wertendes Individuum noch kein kritisches Urteil über ihn ab. Dann fühlen wir Behagen oder Missbeharen über den in Frage stehenden Gegenstand und können nur von unserem subjektiven Eindruck sprechen. Dies hindert uns nicht, nach einer Weile auch ein Urteil über die Sache darzustellen; dann aber ist unser Ver- halten zu ihr schon ein anderes, das des Theorvtikers. Andererseits bedeutet der Umstand, dass wir ein Werturteil aus- sprechen, z. B. »Dieses ist gnt», nicht, dass wir selber es auch als gut werten. Mit den Werturteilen: »Dieses ist gut» oder »Dieses ist schön» ist noch nicht unbedingt gesagt, dass die Wert-Objekte, die ihnen
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als Grgenstände dienen, für das wertende Subjekt Werte bedeut--ten. Zu Werten werden sie ihm erst dann, wenn es in seinem eigenen Wertgefühl sie als solche erlebt. Ein Werturteil aber setzt dieses Erleben nicht unbedingt voraus. Denn vielen Menschen sind z.B. die ästhetischen Werte gleichgültig, und doch können sie ästhetische Werturteile, ja sogar gut begründete, aussprechen. Ebenso setzen wir, wenn wir vom Staate reden, bestimmte Wertbeziehungen vor- aus, die wir in unseren Urteilen darstellen. Ob wir selber aber dies® Werte erlebt haben, ist für diese Werturteile mit Rücksicht auf ihr«n Urteilscharakter ganz gleichgültig.
Zur Beleuchtung des Unterschiedes zwischen Werterkenntnis und Werten sei auf einen einfachen analogen Unterschied hinzewie- sen. Ich meine den Unterschied, der z. B. zwischen dem Essen und dem Kennen der Eigenschaften der Speise, die gegessen wird, be- steht. Man könnte vielleicht sagen, dass die Tätigkeit des Essens voraussetzt, dass gleichzeitig die Speise beurteilt oder zu ihr erkennt- nismässig Stellung genommen wird. Aber dies ist nicht der Fall. Vielmehr wird gewöhnlich gegessen, olıne dass an die Speise ge- dacht wird, und wenn Urteile über die Speise gefällt werden, ge- hört das Urteilen wenigstens nicht zur Tätigkeit des Essens. Aus- serdem essen die meisten Menschen, ohne überhaupt zu urteilen. Sie handeln unmittelbar. Wenn beim Essen dann das Urteil »Dies ist Fisch» oder »Dies ist gut» ausgesprochen wird, bleibt man nicht incehr bei der unmittelbaren Tätigkeit des Essens, sondern man niınmt als aussenstehender Betrachter Stellung zu ihr. Dabei wird ein Urteil darüber ausgesprochen, das wahr oder falsch ist. Denn das Essen könnte ja Fleisch oder vergiftet sein. Beim Essen selber kann man nichts über das Essen, das gegessen wird, wissen. Es wird nur genossen.
Dasselbe ist von der Werteinstellung zu sagen. Beim Werten wird irgendein Wert unmittelbar erlebt. Bei der Werterkenntnis wird objektiv zu ihm Stellung genommen. Dann erhalten wir Kennt- nis von ihm und sprechen Urteile über ihn aus. In ersterem Falle ist unser Verhalten zum Werte praktisch, handelnd, in letzterem
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 83 theoretisch. Beim gefühlsmässigen Werten erleben wir den Wert unmittelbar als Wert, als Unwert oder als gleichgültig. Die reine Werteinstellung ist nicht von Werturteilen begleitet. Dann han- deln wir als unmittelbare ästhetische, ethische u.a. Person und als solche häufig sehr subjektiv und willkürlich.
Wenn wir aber die Werturteile: »Dies ist schön» oder »Dies ist gut» aussprechen, ist unser Verhalten nicht mehr rein ästhetisch oder ethisch, sondern theoretisch in demselben Sinne, wie wenn wir das Urteil »Dies ist Holz» aussprechen. Dann versuchen wir einen be- stimmten Sachverhalt, nämlich eine gewisse Werttatsache, zuerkennen. \venn wir z. B. das Werturteil »Dieses Gemälde ist schön» oder »Diese Landschaft ist reizvol» aussprechen, bringen wir keine subjektiven Zustände zum Ausdruck, sondern wir versuchen einen gegenständ- lichen Sachverhalt zu erkennen, der im Geinälde oder in der Land- schaft selber liegt. Weder der Biologe oder Physiologe, der vitale Werte erforscht, noch der Historiker, der Kulturwerte untersucht, geht in seiner Forschung in dem Sinne vor, dass er selber die Werte, die seinen Untersuchungen als Gegenstand vorliegen, in die von ihm behandelten Erscheinungenhineinverlegte, sondern er glaubt vielmehr diese Werte in der Wirklichkeit selber aufzufinden. Er möchte sich ihnen gegenüber ganz unparteiisch wie zu anderen Untersuchungsobjekten verhalten, nur die vorliegenden Erschei- nungen feststellen und erklären. Ihm selber als wertender Person gefallen nicht immer alle Werte. Vielmehr kann er vollkommen »wertblind» sein, um überhaupt viele von diesen zu werten. Dies aber hindert ihn nicht, über sie Werturteile auszusprechen, die mit dem Anspruch auf Objektivität und Allgemeingültigkeit auftreten, die also wahr oder falsch sein können.
Der Unterschied zwischen Werten und Werterkenntnis ist, ob- schon er wesentlich ist, oft nur begrifflich in dem Sinne, dass sie im wirklichen Leben so nahe miteinander verknüpft erscheinen, dass sie schwer voneinander zu trennen sind. Auf das Werten folgen oft — wenn auch nicht immer — ausgesprochene oder stille Werturteile, wie auf die Werturteile — allerdings nicht immer — auch ein be-
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stimmtes Werten folgt. Dies kommt daher, dass Gefühl und Ver- stand, welche die »Orzane» dieser Einstellungen sind, fest miteinander verknüpft sind. So bestimmt auch oft unser Werten unsere Wert- erkenntnis, wenn auch bei weitem nicht immer zu ihrem Vorteil. und umgekehrt wirkt unsere Werterkenntnis auf unser Werten. Doch: hindert der nahe Zusammenhang zwischen dem Werten und den Werturteilen nicht, einen Unterschied zwischen ihnen zu machen. Je objektiver wir uns auch auf unsere eigenen Wertungen einzustel- len vermögen, desto allgemeingültigere Werterkenntnis kün- nen wir zu erreichen hoffen.
Wenn man vom Standpunkt der Unterscheidung zwischen Wer- ten und Werterkenntnis die Werturteile betrachtet, sind die oben erwähnten entgegengesetzten Auffassungen von ihnen offenbar mit- einander auszugleichen. Denn beide Auffassungen gehen von ganz verschiedener Grundlage aus und betrachten die Erscheinungen von verschiedenen Gesichtspunkten. Es handelt sich hier also nicht um zwei entgegengesetzte, sondern um einander ergänzende Anschau- ungen. Denn die einen sprechen vom Werten und die anderen von der Werterkenntnis. Unsere unmittelbare Werterfahrung können wir auch in urteilsmässige Aussagen kleiden, wie wir unsere unmit- telbaren Sinneswahrnehmungen in solche einkleiden. Derartige »Wert- urteile» drücken nur auzenblickliche, gelegentliche und unbegründete Stellungnahmen des wertenden Subjekts den Werten gegenüber aus, und als solche enthalten sie kein eigentliches Erkenntnismoment. Meistens erhalten sie auch nur die Form eines Ausrufes: O! Ach: usw. Bisweilen können sie auch in der Form eines vollständigen Satzes auftreten: »Wie schön ist es hier» »Welch einc edle Tat war es’
Solange aber die »Werturteile» nur Kundgebungen augenblick- lieber Stellungnahmen des wertenden Subjekts sind — und als solche sind sie sehr relativ —, kann von ihnen nicht gesagt werden, ob sie wahr oder falsch sind. Sie treten nicht einmal mit dem An- spruch der Wahrheit auf. Nur ihrer Satzform, nicht ihrem logischen Wesen nach sind sie Urteile. Deshalb können sie auch nach CrocE »Wertausdrücke» genannt werden. Auf keinerlei Art führen
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sie auf die Erkenntnis über die Wert-Gogenstände selber; ihr Inhalt ist nicht mit einer logischen, sondern mit einer gefühlsmässigen oder praktischen Tätigkeit verbunden. Es ist offenbar, dass derartige Wertausdrücke nicht als Urteile in die Wissenschaft gehören. Darin haben CrocE, WEBER und ihre Anhänger recht. Neben ähnlichen Aussagen wie: »Es ist dumm, schön, pedantisch, spiessbürgerlich, dass — — -— liegen sie ausserhalb der logischen Erkenntnis. Mit ihnen kann die Bestimmung wahr oder falsch nicht verbunden wer- den.
Doch derartige Wertausdrücke erschöpfen die Werturteile nicht; eigentlich sind sie überhaupt keine Werturteile. Höch- stens können sie der Bildung von Werturteilen zugrundeliegen. Sie sind nicht Werterkenntnis selber, sondern nur gewisse Tatsachen, welche die Werterkenntnis in Betracht ziehen kann. In Bezug auf die Werterkenntnis sind die Wertausdrücke ungefähr in dersel- ben Lage wie die unmittelbaren Sinnesurteile der physikalischen Erkenntnis gegenüber. Auch die Sinnesurteile stehen den verschieden- artiesten Irrtümern offen. Wenn die physikalische Erkenntnis ein- zig und allein auf sie angewiesen wäre, würde sie niemals so weit kommen, dass sie ein physikalisches Gesetz oder eine Ordnung erkennen könnte. Sie wäre ewig verdammt, im Chaos zu ver- harren. Ebenso begnügt sich unsere Werterkenntnis nicht mit den Wertausdrücken, sondern indem sie sich diese teilweise zunutze- macht, bemüht sie sich, Ordnung und Gesetzmässiekeit, die in dem Reich der Werte herrschen, zu erkennen; sie strebt nach objektiven Werten. Das Ziel der Wertphilosophie ist, die in der Welt der Werte herrschenden Beziehungen zu erkennen. Und dieses Ziel ist nicht mehr mit Wertausdrücken, sondern mit Hilfe logischer Werturteile zu erreichen. Soweit die Wertwissenschaften Wissenschaften sein wollen, streben sie danach, über die Werte allgemeingültige Urteile darzustellen, die von den eigenen Wertausdrücken des Forschers ebenso unabhängig wie von denen jedes anderen wertenden Subjekts sind. Die Wertausdrücke sind somit von den Werturteilen zu trennen.
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Hier erhebt sich die Frage, wie die allgemeingültigen Wert- urteile möglich sind, oder wie die Werturteile Erkenntnisurteile sein können. Die Grundlage ihrer Möglichkeit möchte ich in der Tat- saehe sehen, dass das Logische sich über alle Gebiete, also auch über das Reich der Werte, verbreitet. Ein theoretisches Verhalten ist allem Tatsächlichen gegenüber möglich, das überhaupt Beziehungen enthält. Dasselbe ist auch im Wertbereich der Fall. Indem wir Werturteile darstellen, ist unser Verhalten durchaus kontemplativ, theoretisch. Dabei bemühen wir uns, die im Wertbereich geltenden Beziehungen aufzufinden, nicht zu werten. Wir geben uns dann nicht mehr mit den unmittelbar erlebten Wertentscheidungen zufrieden, sondern wir suchen nach der Wahrheit in der Welt der Werte. Wir können dabei das Richtige treffen oder uns irren, wie bei jeglicher rein betrachtenden Stellungnahme. Samit liegt kein Grund vor, die Möglichkeit der Wahrheit auf dem Gebiet der Werte zu leugnen. Ebenso wie von den physikalischen, chemischen oder biologischen Wahrheiten gesprochen wird, kann auch von ästhetischen, ethischen und religiösen Wahrheiten die Rede sein. Das logische Wesen der Wahrheiten selber ist in allen diesen Fällen dasselbe. Nur ihr Inhalt oder ihr Material wechselt. Bei den Werturteilen sind die Gegen- stände des Urteilsaktes die Werte, aber der Urteilsakt selber ist da- bei rein logisch. Ebenso wie die Werterkenntnis als eigentliche Er- kenntnis aufzufassen ist, sind auch die Werturteile trotz der gegen sie angeführten Einwände logische Urteile, die mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten können.
Der logische Charakter der Werturteile ist in geeigneter Weise auch dadurch zu erhellen, dass sie ihrer Struktur nach den Existenz- urteilen ähnlich sind oder ihnen ähnlich gestaltet werden können. Am deutlichsten ist dies der Fall bei Urteilen wie »Das Gemälde ist
I Fr. BrENTANo, Psychologie 1, S. 281 f. hat schon dargestellt, dass alle Werturteile auf die Form der Existenzurteile zurückzuführen sind. Für den Urteilscharakter der Werturteile sind in letzter Zeit u.a. G. Vaucnen, Le lan- gage affeetif et les jugenents de valeur, Paris 1925 und E. Gosror, La logi-
que des jugements de valeur, Paris 1027, eingetreten.
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schön» und »Peter ist ein guter Mensch». Sie sind ihrem logischen Wesen nach ganz derselben Art wie die Urteile »Das Haus ist gelb- lich» oder »Dieser Baum ist eine Birke». Der Unterschied liegt im Prä- dikatsbegriff, nicht im logischen Wesen des Urteils. Die genannten Werturteile streben danach, einen tatsächlichen Sachverhalt, eine Wertbeziehung, zu treffen. Wir haben nicht die Absicht, durch sie etwas zu den Gegenständen hinzuzufügen, sondern eine ihrer Eigen- schaften festzustellen, oder sie zu bestimmten Werten in Beziehung zu stellen. Dann können sie auch ebensogut wahr oder falsch sein, wie die Existenzurteile. Denn auch bei den Existenzurteilen liegt die Wahrheit nicht im Prädikatsbegriff, sondern in den von ihnen angezeigten Beziehungen. Es kann nicht gesagt werden »Das Haus ist wahr» oder »Der Baum ist wahr, sondern die Wahrheit ist mit der zwischen Subjekt und Prädikat bestehenden Beziehung des Ur- teils verbunden. Ganz dasselbe ist bei den in oben erwähnter Form vorkommenden Werturteilen der Fall. | Verwickelter gestaltet sich die Frage bei den in normativer Form auftretenden Werturteilen, bei solchen wie »Du musst so und so handeln», »Du sollst ehrlich sein», »Der Soldat soll tapfer sein. Auch diese normativen Urteile richten sich gewiss auf irgendwelche gegen- ständlichen Wertbeziehungen, wenngleich es nicht in ihrer sprach- lichen Form ebenso unmittelbar wie in den oben erwähnten Wert- urteilen zum Ausdruck kommt. Sie sind keineswegs, wie gewöhn- lich angenommen wird, der Ausdruck rein subjektiven Wünschens, Fühlens oder Wollens, so dass sie keinen Anspruch auf Wahrheit erheben könnten. Selbstverständlich treten in der Form der norma- tiven Urteile auch Wertausdrücke auf, die von den logischen Urteilen auszuschliessen sind. Solche Wertausdrücke sind alle rein subjek- tiven und willkürlichen Wünsche und Befehle, die keine objektive Wertgrundlage haben. Von ihnen aber sind die eigentlichen ethi- schen, ästhetischen u.a. normativen Werturteile zu unterscheiden. Bei diesen gründet sich das »Sollen» immer auf irgendein »Sein», ohne welches es leer und inhaltslos wäre. Bei den ethischen Normen z. B. kommt es nicht darauf an, Wünsche, Willensäusserungen und Be-
88 J. E.SALOMAA. BAXIIL« fehle eines wertenden Subjckts anzuführen, sondern man müchte durch sie irgendeinem gegenständlichen | Sachverhalt, irgendeiner Wertbeziehung, Ausdruck verleihen. Derselben Meinung ist auch HUSSERL. »Sagen wir: "Ein Krieger soll tapfer sein’, so heisst das nicht, dass wir oder jemand sonst dies wünschen, befehlen oder for- dern... ’Ein Kricger soll tapfer sein’, das heisst vielmehr: nur ein tapferer Krieger ist ein 'guter’ Krieger, und darin liegt, da die Präli- kate gut und schlecht den Umfang des Begriffs Krieger unter sich teilen, dass ein nicht tapferer ein schlechter’ Krieger ist.» !
So ist auch in den normativen Urteilen ein logisches Urteil zu erblicken, das entweder wahr oder falsch sein kann. Dies tritt klar hervor, wenn wir an Normen wie »Der Soldat soll ein Feigling sein», »Der Mensch soll unehrlich sein» denken. Wenn nicht zwischen diesen und den Normen »Der Soldat soll tapfer sein» und »Der Mensch soll ehrlich sein» irgendein gegenständlicher Sachverhalt entscheidet, verlieren alle unsere ethischen Urteile den Boden und verfallen rein subjektiver Willkür. Wenn diese Normen n'chts als Wertausdrücke blieben, wären sie keine rechten Normen. Ihre ursprüngliche Grund- lage ist nicht Gefühl oder Neigung des Subjekts, sondern eine objek- tive Wirklichkeit.
Ähnlicher Art wie die Werturteile sind ihrem logischen Wesen nach alle praktischen Urteile, wie auch die Welt der Werte in wei- terem Sinne als Welt der Handlung aufgefasst werden kann. Ur- teile wie »Du musst dich an einen Arzt wendem, »Dieses Kleid ıst zu kaufen», »Zwischen Pajımäki und Niittylä ist eine Eisenbahn zu erbanem und zahlreiche andere derartige Urteile beziehen sich alle auf irgendeinen gegenständlichen Sachverhalt, indem sie versuchen, bestimmte gegenständliche Beziehungen zu erfassen, wobei sie gültig oder ungültig sein können. Sie bemühen sich, irgendeine tat- sächliche, oft schr verwickelte Situation zu bestimmen. Um gültig zu sein, setzen sie genaue Kenntnis der gegenständlichen Faktoren,
I Logische Untersuchungen I, S. 41. — Vgl. auch Ideen zu einer reinen Phänomenologie 1, S. 290 f. und Max Scheuer, Der Formalismus in der Ethik und die materiale \Vertethik, Halle a. d. S. 1021, S. 175.
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welche die Situation bilden, voraus. Auch in diesen Urteilen möchte also das urteilende Subjekt zu den Gegenständen nichts hinzufügen, sondern versucht nur den in ihnen liegenden Sachverhalt aufzufin- den — als solchen, wie er vom Standpunkt der Handlung aus zu wissen wichtig ist. Erst indem das Subjekt zur Handlung übergeht, nicht während es urteilt, verändert es den Sachverhalt.
Bezeichnend für den logischen Charakter der Werturteile ist weiterhin, dass mit ihnen dieselben logischen Operationen wie mit den Existenzurteilen vorgenommen werden können. Sie sind auf dieselbe Art wie diese zu begründen, und man kann sie als Prä- missen bei Schlüssen verwenden. Z.B. kann von einem Grundwert auf einen Mittelwert und von dem Wert irgendeines Gegenstandes auf den Unwert seines Gegenteils geschlossen werden. Wer einen Gegenstand als Wert anerkennt, kann nicht gleichzeitig behaup- ten, dass in derselben Beziehung auch sein Nichtvorhandensein ein Wert wäre. Die logischen Gesetze der Urteile gelten also auch in Bezug auf die Werturteile. Ebenso sind die Werturteile ihrer Urteils- qualität nach den anderen ähnlich: sie sind verneinend, bejahend, apodiktisch, problematisch usw. Mit einem Wort gesagt, auf die Werturteile und die Werterkenntnis in ihrer Gesamtheit ist alles das anzuwenden, was oben über die Urteile und die logische Erkennt- nis im allgemeinen gesagt werden ist.
Mit Vorhergehendem sind wir also zu dem Ergebnis gekommen, dass die Werturteile, indem sie sich von den Wertausdrücken unter- scheiden, zu den logischen Urteilen gehören und als solche theore- tisch sind. Von den übrigen Urteilen unterscheiden sie sich nur auf Grund ihres Gegenstandes und nicht ihres logischen Wesens. Durch die Bezeichnung »Werturteil» soll ausgedrückt werden, dass Gegen- stände dieser Urteile die in der Welt der Werte geltenden Beziehun- gen sind, dass sie sich auf die Werte beziehen — und also nicht, dass sie selber Werten oder Stellungnahme zu den Werten wären. Die- jenigen Wissenschaften, die Werturteile anwenden oder sich auf diese gründen, sind deshalb auch nicht — oder brauchen es wenigstens nicht zu sein — wertende, sondern theoretische Wissenschaften. Es
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besteht keine Veranlassung, die Werturteile von den Wissenschaften auszuschliessen, sondern es ist nur darauf zu sehen, dass sie logisch begründet und nicht als blosse Wertausdrücke auftreten.
Nachdem wir gesehen haben, dass das eigentliche Wesen des UTr- teils — sowohl des Existenz-, als auch des \Werturteils — darin be- steht, dass es einen wirklichen Sachverhalt zu erkennen strebt, und dass es wahr oder falsch ist, stösst uns eine neue und für alle Erkennt- nis entscheidende Frage auf: Wie können wir die wahren und fal- schen Urteile voneinander unterscheiden? Wir haben gesehen, dass der Gegenstand des Urteils in dieser Hinsicht bestimmend ist. Doch liegt er ausserhalb des Urteils. Es handelt sich also um die Frage. wann ein Urteil seinem Gegenstand entspricht. Die Qualität des Ur- teils gibt hier keinen Anhalt; denn alle verschiedenen Qualitätsarten können gleicherweise für die Wahrheit wie für den Irrtum offen sem. Das apolliktische Urteil»Die Sonne muss die Erde umkreisen» ist eben- sogut dem Irrtum zugänglich wie das problematische: »Es ist ungewiss, ob man einen Winkel in drei Teile zerlegen kann». Das bejahende Ur- teil: »Das Perpetuum mobile ist möglich» ist ebensogut ein Irrtum wie das verneinende: »Mit dem Luftschiff kann man nicht über den Atlantischen Ozean gelangen» usw. Die Qualität macht, wie schon bemerkt worden ist, das Urteil für den Irrtum zugänglich. Das Urteil selber leistet als solches noch keine. Gewähr dafür, dass es wahr oder falsch ist. Es erfordert noch eine Begründung.
Der Wahrheitsgehalt des Urteils wird somit noch nicht durch das Verhalten des erkennenden Subjekts zu ihm entschieden. Denn darauf können höchst verschiedenartige, untheoretische Faktoren wirksam sein. Ein urteilendes Subjekt kann irgendein Urteil z.B. aus deın Grunde für wahr halten, dass es den Sachverhalt so wünscht, wie das Urteil ihn darstellt, indem es die Regel stat pro ratione volun- tas befolgt. Es liegt klar zu Tage, dass der Wille als solcher keinerlei Gewähr dafür bietet, dass ein Urteil wahr wäre. In anderen Fällen kann auf das Fürwahrhalten des Urteils ein starkes Gewissheits- gefühl wirken. Aber auch dies bürgt nicht für die Wahrheit des
BXXIIL, Das Problem der Wahrheit. 91
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Urteils. Wie oft haben sich Urteile als Irrtümer erwiesen, obgleich unser Gefühl eine lebendige Sprache für sie geredet hat! Aber auch in vielen Fällen, bei denen rein theoretische Gesichtspunkte für das Urteil gesprochen haben, hat es oft falsch sein können. Dieses alles jedoch reicht noch nicht aus, alle Urteile als ungewiss oder subjek- tiv hinzustellen, sondern legt nahe, den Charakter und die Grundlage Ihrer Gewissheit zu untersuchen.
Hier ist dann leicht festzustellen, dass in der Gewissheit verschie- dener Urteile ein deutlicher Unterschied zu bemerken ist. Urteile wie »2? +2 =%4, »Der Ton ist von der Farbe unterschiedem, »Es gibt keine Eltern ohne Kindem usw. erscheinen uns durchaus gewiss, während dagegen die Urteile »Die Welt ist unendlich», »Der Wille ist freiv, »Das Grundwesen des Psychischen ist das Wollen» usw. un- sicher sind. Es fragt sich hier, ob es ein Kriterium gibt, mit dessen Hilfe wir die gewissen Urteile von den ungewissen unterscheiden können. Und wie sind die Urteile zu begründen, so dass sie als ge- wiss auftreten können? Sind sie überhaupt zu begründen? Diese Frage betrifft die Kriterien der Wahrheit.
III. Die Kriterien der Wahrheit.
Das Problem der Wahrheit und das Problem ihrer Kriterien sind Zweierlei, obgleich sie oft in der philosophischen Literatur mitein- ander verwechselt werden. Die absolute Wahrheit bedeutet beispiels- weise nicht, dass es auch ein absolutes Kriterium für ihre Erkenntnis gäbe. Andererseits bringt das Felllen eines absoluten Kriteriums noch nicht die Verneinung der absoluten Wahrheit mit sich. Berde, die Wahrheit und ihr Kriteriun, stehen sozusagen auf verschiedenen Ebenen. Während die Wahrheit an sich von der Erkenntnis unabhän- gig ist, gehört ihr Kriterium ganz und gar In das Bereich der Erkennt- nis. Die Kriterien bedeuten diejenigen Hilfsmittel, die uns zur Ver- fügung stehen, wenn wir die wahren Urteile von den falschen unter- scheiden wollen, wenn wir also klarstellen wollen, ob unsere Urteile mit einem wirklichen Sachverhalt übereinstimmen oder nicht.
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Die Wahrheit kann im Bewusstsein nur als Gewissheit er- lebt werden. Die Wahrheit ist für uns das, über was wir uns vollkom- men gewiss sind. Die Wahrheit an sich können wir nicht unmittel- bar erleben, sondern wir erleben sie nur in unserem Bewusstsein, wobei sie Gewissheit ist. Wahrheit und Gewissheit aber sind von- einander zu unterscheiden. Denn nicht alles, über das wir uns sicher sind, ist Wahrheit, und nicht alle Wahrheit erscheint uns als Gewiss- heit. Als Problem ergibt sich hier, die Kriterien aufzufinden, welche die gegenseitige Beziehung von Wahrheit und Gewissheit erhellen, und auf Grund deren entschieden werden kann, ob der Gewissheit auch die Wahrheit entspricht. Das Kriterium der Wahrheit gehört somit in das Bereich der Gewissheit. Sein Zweck ist, Charakter und Quellen der Gewissheit des Erkennens klarzustellen. Diese Frage führt uns zunächst auf die Untersuchung des Selbst-Bewusstseins und seiner Tatsachen.
Die Evidenz.
Das allgemeinste, oft sogar das einzige Kriterium, welches das Selbst-Bewusstsein für die Wahrheit aufweisen kann, schen viele Denker in der Evidenz. Allerdings ist es schwer, darüber klar zu werden, was man unter Evidenz versteht. Denn ihr Begriff bleibt meistens unerklärt, oder es wird im allgemeinen nur darauf hinz- wiesen, dass das letzte Kriterium der Wahrheit entweder ein selbst- evidenter oder ein nicht analysierbarer Begriff ist. Doch wenn man (lie Auffassungen von der Evidenz bei verschiedenen Denkern näher untersucht, stellt sich bald heraus, dass darunter höchst verschiedene Dinge verstanden worden sind und verstanden werden. Oft hat es den Anschein, dass immer dann die Evidenz herangezogen wird, wenn keine andere Erklärung zur Hand ist. Sie bildet sozusagen den letzten Stützpunkt, wenn alle anderen Stützen versagen.
Von der Evidenz ist schon im Zusammenhang mit der Sinnes- wahrnehmung die Rede. Hierbei versteht man unter Evidenz die- Jenige unmittelbare Gewissheit, die unseren Sinneswahrnehmungen und den ledielich auf diese zurückgehenden Urteilen folgt. Evident
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ist alle unmittelbare Wahrnehniung oder alles sinnlich Gezebene. So sprechen wir Urteile wie z. B.: »Dieser Baum ist grün», »Jetzt regnet es, »Das Pfeifen des Zuges ist deutlich zu hören» usw. als ganz gewiss aus. Wir können nicht einmal diese Urteile näher zu . begründen versuchen. Sie sind evident einem jeden, der mit denselben Sinnen wie wir ausgestattet ist.
Die unmittelbare Evidenz der Sinneswahrnehmung enthält kei- neswegs ein Kriterium der Wahrheit. Sie gibt uns nur die Gewissheit dessen, dass wir eine bestimmte Empfindung haben, die durch keinerlei Beweisführungen zu nichte gemacht werden kann. Aber sie gibt noch keine Gewissheit über die Wahrheit des Urteils, das . wir lediglich auf Grund jener Empfindung bilden. Wenn wir einen Stock anselıen, der ins Wasser gestellt worden ist, und er uns ge- knickt erscheint, können wir das Urteil bilden: »Der Stock ist im Wasser geknickt»; aber hiermit treffen wir nicht die Wahrheit. Un- sere Gewissheit erstreckt sich nur darauf, dass der Stock unseren Sinnen geknickt erscheint. Dessen sind wir uns unbedingt unmittel- bar gewiss. Doch ist diese Gewissheit keine Wahrheit, da es sich um eine Sinnestäuschung handelt. Die Sinnesgewissheit kann also eben- sogut dem Irrtum wie der Wahrheit offen stehen, so dass sie nicht als Wahrheitskriterium fungieren kann.
Die Evidenz der Sinneswahrnehmung wird meistens nur an- gewandt, um den Charakter des eigentlichen Evidenzbegriffs zu beleuchten. Von der Evidenz im eigentlichen Sinne des Wortes wird nur im Zusammenhang mit der Erkenntnis, die weiter als die Sin- neswahrnehmung reicht, geredet. Dann bedeutet die Evidenz, dass wir uns der Notwendigkeit irgendeines Sachverhalts unmittelbar gewiss sind. Solche mathematischen Urteile wie z. B.:»7 +5 = 12», »3xX 4 =12 usw. hält man für evident. Der in diesen Urteilen ent- haltenen Wahrheit sind wir auch unmittelbar gewiss. Ebenso sind wir uns dessen unmittelbar gewiss, dass an einem Ding dieselbe Eigen- schaft in derselben Beziehung nicht bejaht und verneint werden kann, oder der Gültigkeit des Gsetzes des Widerspruchs. So wird angenommen, dass sich die mathematischen und logischen Gesetze
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letzten Endes nur auf die Evidenz gründen. Wir sind uns, wie angenommen wird, ihrer Gültigkeit unmittelbar gewiss, und wir können für diese Gewissheit keinen anderen Grund als die Evidenz anführen.
Oben hat es sich nur um die unmittelbare Evidenz gehandelt, wobei also die Gewissheit des Urteils uns sogleich erscheint, wenn wir den Gedanken gedacht haben, ohne dass wir dabei anderer Denk- akte bedürfen. Ausserdem gibt es noch eine mittelbare Evidenz, wobei sich die Gewissheit auf früher vollzogene Denkakte gründet. So beziehen sich viele unserer Urteile auf einen Sachverhalt derart, dass wir deren Gültigkeit nicht direkt feststellen können. Zum Tei- ist dies darauf zurückzuführen, dass ein solcher Sachverhalt keine in] nere Notwendigkeit hat, sondern nur die Folge bestimmter Vor- aussetzungen ist. Als Beispiel hierfür kann folgendes Urteil erwähnt. werden: »Die Summe der Winkel in einem Dreieck ist gleich zwei Rechten», das noch nicht aus dem Begriff des Dreiecks als solchem hervorgeht, sondern durchaus auf die Voraussetzungen der Euklidi- schen Geometrie zurückgeht. Dieses Urteil ist also nur vom Stand- punkt der Euklidischen Geometrie aus gültig und als solches evident. Die Gewissheit solcher Urteile gründet sich immer darauf, dass ihre Voraussetzungen schon früher als gewiss nachgewiesen sind. Ihre Evidenz ist also mittelbar. Die mathematische und die logische Erkenntnis stützen sich oft auf eine derartige Evidenz. Doch ist sie auch der empirischen Erfahrung nicht fremd. Wenn wir z.B. einen unbekannten Vogel sehen und gleichzeitig ohne weiteres das Urteil aussprechen, dass »er Eier legt», so gründet sich die Gewiss- heit dieses Urteils auf die mittelbare Evidenz. Sie stützt sich auf zahlreiche frühere Beobachtungen, dass die Vögel Eier legen. Hier- aus wird der Schluss gezogen, dass das Eierlegen zum Wesen des Vogels gehört, und dass dies auch für den in Frage stehenden un- bekannten Vogel zutrifft.
Was aber ist ihrem Wesen nach die Evidenz, für deren Auftreten im Vorhergehenden Beispiele beigebracht worden sind? Und ver-
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 95 bürgt sie die Wahrheit unserer Erkenntnis? Jede dieser beiden Fragen erfordert ihre eigene Erklärung.
Gewöhnlich wird die Evidenz alsein Gefühl aufgefasst. Die mei- sten Denker, die in der Evidenz ein Kriterium der Wahrheit schen, sprechen dabei auch vom Evidenzgefühl. So hat FıcHTe die Sache aufgefasst.! Derselben Ansicht sind auch u.a. SIGwArT, MÜLLER- FREIENFELS und FRISCHEISEN-KÖHLER.?
Der Einfluss des Gefühls auf die Erkenntnis ist eine Tatsache, die nicht geleugnet werden kann. Aber es handelt sich hier darum, ob das Gefühl uns die Gewissheit über die Wahrheit gibt, und ob man somit das Gefühl als ein Kriterium der Wahrheit ansehen kann.
Oft haben die Denker ohne weiteres alle gefühlsmässige Erkennt- nis nur darum als wertlos abgewiesen, weil sie sich auf das Gefühl gründet. Auf diese Weise ist nicht zu verfahren. Die Frage ist ver- wickelter. Es ist nicht a prior klar, dass die Gefühlserkenntnis zu verwerfen ist. Denn sie ist tief im Wesen des Menschen begründet. Ebensogut könnte die Möglichkeit gelten, dass das gefühlsmässige Erkennen das einzig gültige Erkennen wäre. Das Gefühlserkennen kann noch nicht darum verurteilt werden, weil das Gefühl dabei mitspricht. Denn denkbar wäre die Möglichkeit, dass das Gefühl tiefere Erkenntnis als der Verstand erreichen könnte. Doch das Gefühl als letztes Kriterium der Wahrheit anzunehmen, hindert einzig und allein der Umstand, dass das Gefühl uns die Dinge ge- wöhnlich nicht objektiv so sehen lässt, wie sie sind. Es blendet und hindert am kritischen Denken. Das Gefühl ist unberechenbar.
1 Siehe A. Liegert, Das Problem der Geltung, S. 171.
2 Sıcwarr, Logik I, S. 16, 400; II, S. 776 f.; MÜLLER-FREIENFELS,DasDen- ken und die Phantasie, Leipzig 1916, S. 292 f. FrıscHEisEn-KÖHLer, der nicht selber die Evidenz als Kriterium der Wahrheit anerkennt, fasst ihr Wesen als Gefühl. Siehe sein Wissenschaft und Wirklichkeit, Leipzig und Berlin 1912, S. 119 f. — Was Sıcwarrt anbetrifft, sei bemerkt, dass er früher in die- ser Frage etwas unsicher gewesen ist. So gebraucht er in den ersten Auflagen seiner Logik noch nicht das Wort Gefühl, sondern stattdessen »unmittelbares Bewusstsein der Evidenz», das er in den letzten Auflagen durch das »Gefühl der Evidenz» ersetzt hat.
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Besonders auffällig erscheint die Eigenschaft der Gefühle, das Er- kennen irrezuführen, in psychopathologischen Fällen.!
Die Evidenz als Gefühl aufzufassen, heisst eigentlich die Erkennt- nis als subjektiv erklären. Denn die Evidenz als Gefühl kann nicht ein objektives Kriterium der Wahrheit sein. Sie kann nicht die logi- sche Gewissheit der Erkenntnis verbürgen. Das bei der Erkenntnis auftretende Gefühl kann nicht von seinen subjektiven Momenten befreit werden. Dies geben einige Anhänger der Evidenztheorie selber zu. »Dabei muss allerdings», sagt z. B. MÜLLER-FREIENFELS ?, »eleich betont werden, dass diese Gefühle der Lösung oder der Rich- tigkeit keinerlei Gewähr bieten für eine objektive Lösung, eine objektive Richtigkeit. Im Gegenteil, es ist ein ganz subjektives Ge- fühl, das oft schon beim ersten Versuch der Verifikation sich in Nichts auflöst.»
Obgleich das Evidenzgefühl nicht ein letztes und sicheres Krite- rium der Wahrheit sein kann, ist es doch ein wichtiger Faktor in der Erkenntnis der Wahrheit. Es verfolgt und färbt unsere Erkennt- nis, Indem es immer dann auftritt, wenn wir irgendeine Tatsache erkennen. Wenn wir die Erkenntnis allein vom Standpunkt des erkennenden Subjekts betrachten, als inneres Erlebnis des Subjekts, können wir in jedem Erlebnis in dem Augenblick, wenn wir es erken- nen, ein bestimmtes Bedeutungsgefühl unterscheiden. Be- vor dieses Gefühl in unserem Bewusstsein auftritt, können wir nicht von einem Verstehen der Sache reden. Dies erscheint am deutlichsten in aussergewöhnlichen Situationen. Wir erfahren es z. B. dann, wenn wir in eine begeisterte Unterhaltung vertieft sind. Dann hat neben uns eine Person auftauchen und uns immer wieder an irgendetwas erinnern, ans Telephon oder um etwas Ähnliches bitten können. Erst dann, wenn wir schliesslich unsere Aufmerksamkeit der Unter- breehung zuwenden, fühlen wir in demselben Augenblick, dass wir schon mehrere Male die Aufforderung vernommen, aber nicht aıl-
! Hierzu erwähnt zahlreiche Beispiele u. a. G. Störrınc, Psychologie des menschlichen Gefühlslebens, Bonn 1922, S. 155 f. 2-4.4.0.,8.9297.
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gefasst haben. Sie wird erst dann verstanden, wenn das Bedeutungs- gefühl, das mit ihr verbunden ist, bei uns deutlich eintritt.
Im psychologischen Sinne kann man sagen, dass unsere ganze geistige Tätigkeit, von den einfachsten Sinnesfunktionen bis zum ab- straktesten Denken, von solchen Bedeutungsgefühlen begleitet ist. Ohne diese ist alles Verstehen unmöglich. Auf die Bedeutungs- gefühle gründet sich, dass wir uns klar darüber sind, was die ver- schiedenartigen Begriffe bedeuten, die wir in Rede und Schrift anwenden, obgleich wir selten in der Lage sind, sie genau zu definie- ren. Wir meinen z. B., dass wir recht gut wissen, was eine Pflanze ist, trotzdem aber geraten wir in Schwierigkeiten, wenn wir die Eigenschaften der Pflanze anzugeben haben, sobald wir uns daran erinnern, dass es auch fortbewegliche und fleischfressende Pflanzen gibt. Man kann wohl sagen, dass wir kaum einen von den Begriffen, die wir anwenden, genau definieren können. Die Bedeutungsgefühle leiten uns bei ihrem Verständnis. Schon die Dichtung weist diese Gefühle als Tatsachen aus. Wenn sie verschwinden, wird der Mensch geistig taub und unfähig zu denken.
Das Gefühl hat somit beim Verstehen von Begriffen und Urteilen seine Aufgabe, so dass es, unsere Erkenntnis begleitend, sie uns begreiflich macht. Dieser Unıstand hat auch sicher verursacht, dass man im Gefühl ein Kriterium der Wahrheit gesehen hat. Dazu kann es aber nicht dienen. Das Evidenzgefühl liegt nicht der Bedingung zugrunde, die das Urteil zu einer Wahrheit macht. Es ist eine Folge- erscheinung, die immer dann sich einstellt, wenn das Subjekt das Urteil für wahr hält oder es begreift. Dies geht schon daraus hervor, dass das Evidenzgefühl wechseln kann. Vielen Menschen erscheinen Dinge als selbstevident, in denen tiefe Widersprüche verborgen sind, und andererseits kann vollkommen Klares unklar erscheinen, wenn der Zusammenhang der Sache nicht einleuchtet. Wenn ihnen aber der wahre Sachverhalt aufgeht, tritt auch das richtige Gefühl ein. Auf dieses Gefühl also geht die Wahrheit nicht zurück, sondern es folgt der Wahrheit.
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sein. Sie ist aber nicht notwendigerweise als Gefühl aufzufassen. Besonders HusseErt ist entschieden der Auffassung entgegengetreten, dass die Evidenz ein Gefühl ist.! Die Evidenz ist auch nach HrvsseErL in der Erkenntnisfrage die letzte Autorität. Sie ist »Erkenntnis in des Wortes voller Bedeutung. Aus seiner Darstellung geht aller- dings nicht hervor, was Evidenz ist. Er begnügt sich mit allgemeinen Bemerkungen, dass sie unmittelbares »Erleben» der Wahrheit, klare Beleuchtung, ist, die dem Subjekt die Wahrheit zeigt, und die erst die Wahrheit zur Erkenntnis macht.?
Damit die Evidenz einen Inhalt bekommt, ist sie als intel lektuell aufzufassen. Die Evidenz ist die klare Erkenntnis des auffassenden Subjekts darüber, dass eine Aussage die Wahrheit enthält. Sie ist ihrem Wesen nach unmittelbares Erkennen irgend- eines bestimmten Sachverhalts, mit dem gleichzeitig auch ein klares Bewusstsein dessen verbunden ist, dass das in Frage stehende Urteil mit dem Sachverhalt übereinstimmt. Überzeugung und gefühls- mässiges Erkennen schliessen sich auch einem derartigen evidenten Erkennen an, sind aber nicht dessen Grundlage. Sie sind psycho- logische Folgeerscheinungen des Erkennens und geben ihm Farbe und Kraft. Aber sie sind weder die Evidenz selber, noch ihre Grund- lage. Die Evidenz solcher Urteile wie z.B. »5 +7 =12», »Die rote Farbe ist anders als die grüne» liegt nicht in der auf diese Urteile folgenden Gefühlsgewissheit, sondern in jenem unmittelbaren intel- lektuellen Erkennen, das uns sagt, dass die Urteile notwendigerweise wahr sind, dass wir gerade so zu denken haben, dass es nicht anders sein kann.
In diesem Sinne genommen ist die Evidenz zweifellos für uns ein psychologisches Kriterium der Wahrheit. Wir sind uns unbedingt
1 Logische Untersuchungen I, S. 189 f. sagt Husserr: »Evidenz ist kein akzessorisches Gefühl... Es ist überhaupt nicht ein psychischer Charakter, der sich an jedes beliebige Urteil einer gewissen Klasse (sc. dersog. "wahren’ Urteile) einfach anheften liesse.» \gl. auch S. 12 f., 180 f.; II, 2, S. 127. — Ebenso fasst A. Meınoxc die Evidenz nicht als Gefühl auf. Siehe z. B. Ueber Möglich- keit und Wahrscheinlichkeit, Leipzig 1915, S. 441 f.
2 4.8: 0., 1,8: 121.212: 8.-2:
BXXIIL,ı Das Problem der Wahrheit. 99
der Wahrheiten gewiss, die uns als evident erscheinen. Aber auch in dieser Evidenz spricht immer ein subjektives Moment mit, dass als solches uns nicht gestattet, sie als unbedingt objektives Krite- rium der Wahrheit anzusehen. Denn auch sie steht dem Irrtum offen. Oft sind Urteile für unbedingt evident ängesehen worden, die sich später als falsch erwiesen haben. Es. hat z.B. eine Zeit gegeben, als man sich unbedingt dessen gewiss war, dass die Erde flach wäre, dass die Pflanzen- und Tierarten unveränderlich wären usw. Im Laufe der Zeit haben sich viele derartige für evident angesehene Urteile als unhaltbar erwiesen, und so wird es auch gewiss vielen Auffassungen ergehen, die dem Menschen der Gegenwart als selbst- evident erscheinen. Auch gibt es vieles, was dem einen als voll- kommen evident, dem anderen als nicht evident erscheint. Ohne in Betracht zu ziehen, dass z. B. viele mathematische Wahrheiten, die für den Mathematiker evident sind, den Laien nicht als solche erscheinen, kann auch irgendein Urteil einem auf gleicher Entwick- lungsstufe stehenden Individuum als evident erscheinen, einem an- deren nicht. Die Fluxionsrechnung war für NEwToN durchaus evi- dent, während sie es für BERKELEY nicht war. Das beste Beispiel aber bietet die Evidenz selber. Um als letztes und notwendiges Kriterium der Wahrheit angesehen werden zu können, müsste die Evidenz selber evident sein. Das ist sie aber nicht, wenigstens nicht für alle Denker. Die Evidenz ist nicht selber evident. Und als solche kann sie nicht ein notwendiges und unbedingtes Kriterium der Wahr- heit sein. .
Früher hat man allgemein die Mathematik und die Logik auf sog. »selbstevidente Axiome» gegründet. Hierüber bemerkt NATORP mit Recht:! »Dieser Schwierigkeit der letzten Begründung ist, man mag die Probleme herumwenden, so viel man will, auf keine Weise auszuweichen. Will man sich auf die Evidenz berufen, so scheint leider nichts so wenig evident zu sein, wie die letzten Prinzipien, da
ı Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig und Ber- lin 1923, S. 31. |
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um nichts soviel Streit ist.» Das Schicksal der Euklidischen Geo- metrie und ihrer Axiome im letzten Jahrhundert ist hierfür der best« Nachweis. Deshalb haben sich die Axiome in der Logik immermehr als unhaltbar erwiesen. Die unmittelbare Evidenz, von der im Zusam- menhang mit derartigen Aussagen die Rede ist, ist nur ein Nach- weis dafür, dass man sich der verwickelten Beziehungen, die mit ihnen verbunden sind, nicht genügend bewusst ist. Viele Sätze sind nur so lange evident gewesen, bis sich herausgestellt hat, dass sie, wie z. B. die geometrischen Axiome, ungenau oder falsch sind.!
Aus Obigem geht hervor, dass die Evidenz ein psvchologi- sches Kriterium der Wahrheit und als solches nur ein Kriterium ist, nicht das einzige und unbedingte Kriterium der Wahrheit. Sie erfordert als solche noch objektive Ergänzung und Begründung. Um ein ausreichendes Kriterium der Wahrheit sein zu können. setzt die Evidenz voraus, dass das Subjekt sich selber und anderen vollkommen klarmachen kann, weswegen es von der Wahrheit irgendeiner Aussage vollkommen überzeugt ist. Hier reichen also nicht allein die Versicherungen aus: »Ich bin dessen ganz sicher, »Ich kann es nicht anders denken» usw.; denn hierbei ist auch eine Begründung dafür erforderlich, weshalb man sich der Sache sicher ist, und warum man sie nicht anders denken kann. Eine solche all- gemeine Versicherung kann, wie schon bemerkt worden ist, für einige empirische Fakta genügen, die wir vollkommen klar erleben, aber nicht mehr z. B. für begriffliche Gedankenentwicklungen, bei denen gleichzeitig nachzuweisen ist, dass sie unmöglich anders zu denken sind. Wenn wir dazu nicht imstande sind, handelt es sich um Walhır- heiten, die entweder über unsere individuelle Erkenntnisfähigkeit hinausreichen, oder die alle menschlichen Grenzen umgehen.
Rickerts»transzendentesSollem. Neben oder anstelle der Evidenz sind einige andere Kriterien dargestellt worden, mit denen man die Objektivität oder Unbedingt- heit der Wahrheit in der Erkenntnis begründen will.
ı Vgl. O. HöLpder, Die mathematische Methode, Berlin 1924, S. 383 f.
BXXIIL, Das Problem der Wahrheit. 101 -
In diesem Sinne stellt RıcKkert als Kriterium der Wahrheit das »transzendente Sollen» dar. Er geht davon aus, dass alles Urteilen - notwendigerweise geschieht. Wir stellen dabei eine unbedingte For- derung fest: entweder bejahen oder verneinen. Aber RıckErr fasst dieses Sollen nicht als unmittelbares psychologisches Erlebnis auf, sondern es ist ein von uns unabhängiges transzendentes Sollen, das ungeachtet dessen, ob es ein urteilendes Subjekt anerkennt oder nicht, gilt.! »Jede Leugnung ist ein Urteil, erkennt demnach, so- bald sie den Anspruch auf Wahrheit macht, implicite ein transzen- dentes Sollen an, und ebenso setzt jeder sinnvolle Zweifel immer schon voraus, dass entweder bejaht oder verneint, also unter allen Umständen ein Sollen als gültig anerkannt werden soll. Deshalb ist die Transzendenz des Sollens als Urteils- jenseitigkeit jeder Leugnung wie jedem Zwei- fel entzogen und zu den ODE Grundlagen alles Erkennens zu rechnen.» ?
RıcKErTs Analyse, der man gewiss den Scharfsinn nicht abspre- chen kann, bestätigt allerdings nicht das, nach dem er strebt. Das transzendente Sollen ist eine willkürliche Hypothese und kein Krite- rium der Wahrheit. Wenn an seiner Stelle das Wort »Wahrheit» gebraucht wird, tritt klar zu Tage, dass durch RıicKErts Analyse nur die Unbedingtheit der Wahrheit, aber nicht die Unbedingtheit ihres Kriteriums nachgewiesen wird. Seine Beweisführung zeigt letzten Endes nur, dass man nicht urteilen kann, ohne gleichzeitig die Geltung der allgemeingültigen Wahrheit anzunehmen.? Wenn man hierin ein transzendentes Sollen sehen wollte, würde man auf einen Pleonasmus kommen: die wahren Urteile sind wahr, weil sie wahr sind. Denn die wahren Urteile und die vom Sollen bestimmten Urteile sind eine und dieselbe Sache. Das Sollen ist also kein Krite- rium, mit dessen Hilfe die wahren und falschen Urteile voneinander getrennt verden Könnten.
! Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 205, 208 f. ? Ebenda, S. 212; vgl. auch S. 189 f., 194 ff., 237 f., 306 f., 346. ? Siehe Ebenda, S. 266, 268, 378 und System d. Philosophie I, S. 143 ff.
102 J. E. SALoMmAA. BXXIIL]:
RicKERT möchte das Sollen von jedem Sein, auch vom Sein im Bewusstsein, unabhängig machen. Für ihn ist das Urteilen das Erste, und erst dann folgt die Erkenntnis dessen, was ist. Dabei dreht er den wirklichen Sachverhalt um. Das Sein ist nach ihm nicht vor dem Sollen, sondern das Sollen ist vor dem Sein. Es ist. offenbar, dass sich das Sollen bei ihm dann zu einem durchaus abstrakten, metaphysischen Begriff herausgebildet hat, dem man schwerlich auch nur einen metaphysischen Inhalt zuerteilen kann, geschweigen denn, dass es als solches ein Kriterium der Wahrheit sein könnte.
Das transzendente Sollen gibt daher keine Antwort auf die Frage, zu deren Erklärung es aufgestellt worden ist. Es nimmt den sicher- sten Teilen aller Erfahrungserkenntnis den Boden. Wenn solches unwirkliches und unseiendes Sollen Gegenstand und Massstab der Erkenntnis wäre, was würde dann die Erfahrungserkenntnis bedeuten? RiICKERT lässt alles Gegebene beiseite, was doch ın Bezug auf die Erkenntnis ursprünglich ist. Und was gibt Gewiss- heit darüber, welche Erkenntnis sich auf dieses Sollen gründet und welche nicht? Wenn das Sollen als Gefühl aufgefasst wird, wie Rık- KERT bisweilen zu tun scheint, dann ist es subjektiv, und dann kön- nen alle die Einwendungen, die oben gegen das Gefühl als objektives Kriterium der Wahrheit vorgebracht worden sind, auch gegen das Sollen angeführt werden. Das transzendente Sollen kann somit nicht den Anforderungen entsprechen, die an ein objektives Kriterium der Wahrheit zu stellen sind.t
Die Verifikation.
Die Pragmatisten haben als Kriterium der Wahrheit die Verifika- tion dargestellt. Sie gehen davon aus, dass die Wahrheit nur ein rein menschliches Produkt ist. Die objektive, vom menschlichen Denken unabhängire Wahrheit ist unfassliche »Illusion und Chaos?
ı Eingehender habe ich Rıckerts transzendentes Sollen in meinem Buch: »Nyvkyajan filosofeja», S. 277 ff. behandelt. ® J. Dewer, Studies in Logical Theory, Chicago 1903, S. 36 ff.
BXXIILı Das Problem der Wahrheit. 103
Nach der Auffassung der Pragmatisten sind die Idealisten seit PLATON in den grossen Irrtum verfallen, dass sie die Wahrheit nicht als vom Menschen geschaffen angesehen, sondern sie als ewig gel- tend, von menschlicher Erkenntnis unabhängig und als solche für diese Erkenntnis unbedingt bestimmend aufgefasst haben.
Obgleich die Pragmatisten die Wahrheit nur als ein Produkt unseres Geistes ansehen, trennen sie doch die Wahrheit vom Irrtum, die wahren von den falschen Urteilen, eine rechte von einer unrechten Handlung. Was die Bestimmung des Kriteriums der Wahrheit anbe- trifft, sind sie sich allerdings nicht einig. Sie stellen verschiedene Kriterien oder »Verifikationen» dar, während einer dieses, ein anderer jenes hervorhebt, und nicht immer anerkennen sie alle die von den anderen dargestellten Kriterien. Die allgemeinste Auffassung unter ihnen ist wohl diejenige, dass ein Urteil wahr ist, wenn es auf gün-: stige Ergebnisse führt, wenn es sich als nützlich erweist. Die Wahrheit wird demnach durch ihrepraktischen Wirkungen entschieden. Hieraus geht hervor, dass man nach ihrer Auffassung nicht von der Wahrheit eines Urteils reden kann, bevor seine praktischen Wirkungen sichtbar sind, oder bevor festgestellt wer- den kann, ob es nützlich oder schädlich ist.! Da aber die Wirkun- gen, die zwischen Wahrheit und Irrtum entscheiden, in vielen Fäl- len weit in der Zukunft liegen, und da sie oft nicht einmal erfahren werden können, helfen sich die Pragmatisten auf die Art, dass sie von Wahrheiten reden, die vauf Kredit» angenommen werden. Hier- zu gehören alle diejenigen Wahrheiten, die wir in unserem Leben brauchen, bevor ihre Wirkungen festzustellen sind. Zu solchen »auf Kredit» angenommenen Wahrheiten gehören z. B., dass Australien vorhanden ist, obgleich ich noch nicht dort gewesen bin und es fest- gestellt habe, dass morgen wieder ein neuer Tag ist usw.
Alle Pragmatisten, wie z.B. Dewery, möchten sich nicht den extrem subjektiven und relativen Schlüssen, die aus dieser Lehre zu ziehen sind, anschliessen. DEewey lehnt die Auffassung ab, dass
I Siehe DEwey, The Influence of Darwin on Philosophy, New York 1920, S. 95.
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die Wahrheit nur für eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Ziel gültig wäre. Hier kann nicht von »unserer» Wahrheit, sondern von der durch Erfahrung und Praxis bestätigten Wahrheit die Rede sein. Denn nach DEwEYS Auffassung richtet sich die Erfahrung nicht nach den Individuen, sondern die Individuen richten sich nach der Erfahrung. Das Individuum ist, wie alles andere auch, nur das, als was wir es erfahren. Die praktischen Wirkungen des Urteils in der »unmittelbaren Erfahrung und nicht Ziele und Wünsche des Indi- viduums sind Kriterien der Wahrheit. Deshalb anerkennt DEwEY auch nicht die Annahmıe einiger anderer Pragmatisten, dass auch das Gefühl der Befriedigung ein Kriterium der Wahrheit sei. Besonders JAMEs kommt häufig darauf zurück, indem er die Wahr- heit mit dem Gefühl der Befriedigung identifiziert.! DEewEY dagegen sieht in dem Gefühl der Befriedigung nur eine Folgeerscheinung der Wahrheit, nicht ihr Kriterium.?
Ausser von den nützlichen Wirkungen als Kriterium der Wahrheit oder von der Verifikation nach vorwärts sprechen die Pragma- tisten auch von der Verifikation nach rückwärts. Hierunter verstehen sie die Anpassung neuer Wahrheiten an die alten, ebenso wie sich die alten an die neuen anzupassen haben. Die neuen Wahr- heiten haben, um wahr zu sein, mit dem ganzen organischen Zusam- menhang der Erkenntnis in Einklang zu stehen.? Deshalb kann nach dieser Auffassung nicht das, was gegen unsere alten Überzeugungen spricht, als Wahrheit angesehen werden, bevor es auch diese alten Überzeugungen verändert hat. Beispielsweise ist die von KoPER- NIKUS aufgestellte Weltordnung nicht »wahm gewesen, bevor sich das allgemeine Weltbild entsprechend verändert hatte.
- Die Auffassung der Pragmatisten von den Kriterien der Wahr- heit führt jedoch auf grosse Schwierigkeiten. Ihre Kriterien der Wahr- heit, die praktischen und nützlichen Wirkungen, sind schwer, oft überhaupt nicht anwendbar. Da sie unter nützlichen Wirkungen
ı 2.B. Der Wille zum Glauben, Stuttgart 1899, S. 83 ff. 2 Journal of Philosophy, Bd. V, S. 96. 3 DEwEyY, Mind, N. F. Bd. XVI, S. 336.
BXXAXIIL,„ Das Problem der Wahrheit. 105
nur die vom biologischen Standpunkt nützlichen Wirkungen verste- hen, wird das Gebiet der Wahrheiten sehr eng. Auch hierbei ist zu fragen, was schliesslich entscheidet, was im biologischen Sinne nütz- lich ist, was nicht. Die Entscheidung wird noch dadurch erschwert, dass die Wirkungen auch in dem Falle, bei dem sie deutlich feststellbar sind, erst in der Zukunft liegen. Eine Wahrheit kann also erst zu einer Zeit, wenn sie vielleicht gar keine Wahrheit mehr ist, als Wahrheit anerkannt werden. Die Situation, bei wel- cher die Ergebnisse einer früheren Erkenntnistätigkeit zu sehen sind, kann schon ganz andere Wahrheiten erfordern, als dann festgestellt werden. Was »nützt» in diesem Fall vom Standpunkt der Pragma- tisten aus überhaupt jene frühere Wahrheit? Sie hat schon vor einer neuen weichen müssen, deren Wahrheit wir nicht anders als dadurch kennen, dass wir sie »auf Kredit» annehmen. Denn bei der »un- mittelbaren Erfahrung können wir niemals im Zusammenhang mit dem Akt selber seine Ergebnisse erfahren, die schliesslich seine Wahr- heit entscheiden. Ob z. B. irgendeine Massregel, die unsere Gesund- heitspflege betrifft, von nützlicher Wirkung ist, können wir erst später erfahren, wenn unser Gesundheitszustand schon ein anderer geworden sein kann, und wenn jene Massregel nicht mehr nützlich ist. Und endlich schliessen die Pragmatisten alle die Urteile von der Wahrheit aus, die schädliche Wirkungen haben, die abertrotzdem wahr sein können. Wenn als Kriterium der Wahrheit einzig und allein die nützlichen Wirkungen angesehen werden, kann dies einen Pragmatisten veranlassen, die Lüge in allen den Formen, bei denen er sich Nutzen verspricht, für Wahrheit zu halten. Besonders auf moralischem Gebiet führt dies auf zweifelhafte Schlüsse. Ein prag- matistischer Übeltäter kann z.B. das Verheimlichen seines Verbre- chens für »Wahrheit» halten, wenn er dadurch seine Freiheit zu be- wahren glaubt.
Die Wirkungen der Erkenntnistätigkeit, besonders wennessich da- bei um verwickeltere Fragen handelt, sind auch oft schwer herauszu- stellen. Beispielsweise ist bei vielen ethischen Prinzipienfragen, wie bei der Frage der Willensfreiheit, der altruistischen oder egoistischen
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Moral, schwerlich jemals festzustellen, welche Entscheidung nütz- lich und somit wahr ist. Ist mir im praktischen Leben besser ge- holfen, wenn ich nach der egoistischen oder wenn ich nach der altrui- stischen Moral handle? Welche Antwort wir auch auf diese Frage ge- ben, die praktischen Wirkungen dieser Entscheidung können wir nicht absehen, da auf sie ausser unserer Entscheidung viele andere Fakto- ren wirksam gewesen sein können. Dies geben die Pragmatisten oft zu, und JAMES gewinnt dadurch eine Grundlage für das »Recht auf Glauben», das er angenommen hat, und dessen Gebiet sich bei Ihm neben dem Erkennen sehr umfangreich gestaltet. »Unser Wis- sen ist ein Tropfen, unser Nicht-Wissen ein Meer» Wc unsere Er- kenntnis keiner Lösung fähig ist, beginnt das Gebiet des Glaubens.!
Aus dem Wahrheitskriterium der Pragmatisten kann — wie sie selber zugeben — auch der Schluss gezogen werden, dass nur das eine Wahrheit ist, was aufpraktisch nützliche Ergebnisse führt. Es ist in Betracht zu ziehen, dass hier alle theoretischen Ergebnisse auszuschliessen sind, wie z. B. solche Fälle, bei denen spätere wissen- schaftliche Entdeckungen Hypothesen als wahr bestätigen können, die wir mit wissenschaftlichen Voraussetzungen gebildet haben. Die Pragmatisten sprechen nur von praktischen Wirkungen. DEwETY z. B. wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass alle rein theo- retischen Fragen und Wahrheiten nichtig sind. Somit kann man nach den Pragmatisten überall da, wo praktische Wirkungen weder nach- zuweisen, noch zu erwarten sind, auch nicht von der Wahrheit reden. Urteile, die nicht von praktischem Nutzen sind, sind nicht wahr. Demnach scheiden die Pragmatisten alle diejenigen Urteile und Theorien von den Wahrheiten aus, die auf eine oder die andere Art mit dem Welträtsel zu tun haben, die uns aber nicht in unserer praktischen Tätigkeit weiterhelfen. Erlaubt sind nur die Theorien und Urteile, die nützliche Instrumente beim Handeln sind. Nur so- lange, wie man »mit ihrer Hilfe arbeiten kann», sind sie wahr. Da- gegen sind diejenigen Fragen müssig, deren Lösungen nicht auf unsere praktische Tätirkeit wirksam sind. Dann aber, wenn wir
! Der Wille zum Glauben, S. 56 ff., 98 u.a.
BXXIIL,: Das Problem der Wahrheit. 107
die Wahrheit nur nach dem bemessen, was wir mit ihr anfangen kön- nen, schliessen wir von Anfang an aus unserem Interessenkreise die meisten derjenigen Probleme aus, die das menschliche Denken be- schäftigt haben, seitdem es sich seiner selbst bewusst geworden ist.
Der Wahrheitsbegriff der Pragmatisten rührt von ihrer Auffas- sung der »unmittelbaren 'Erfahrung» her, die alle logischen Prinzi- pien leugnet und die Erkenntnis nur als Diener des praktischen Le- bens auffasst. Zweifellos haben sie darin recht, dass die Erkenntnis dem Leben dient. Aber das Leben, dieser beständig wechselnde und in vielen verschiedenen Formen auftretende, höchst vieldeutige Be- griff, kann nicht als Kriterium der Erkenntnis und der Wahrheit angesetzt werden. Die Pragmatisten drehen hier den wirklichen Sachverhalt um. Irgendein Urteil kann nicht darum als wahr an- gesehen werden, weil es eine Handlung fördert, sondern vielmehr es fördert eine Handlung, weil es wahr ist. So steht es mit allen wis- senschaftlichen Wahrheiten. Dass das Wasser eine chemische Ver- bindung von Wasserstoff und Sauerstoff ist, dass Eisen ein besserer Elektrizitätsleiter als Holz ist, dass Kolumbus Amerika entdeckt hat, alle diese und zahlreiche andere Auffassungen sind nicht darum Wahrheiten, weil sie uns nützlich sind, sondern wir können mit ihrer Hilfe darum arbeiten, weil sie wahr sind, weil nachgewiesen worden ist, dass sie einem wirklichen Sachverhalt entsprechen. Die Pragma- tisten trennen das Denken allzu scharf vom Handeln, indem sie allein im Handeln die ursprüngliche und entscheidende Erfahrung erblik- ken und das Denken ablehnen. Sie lassen ausser Acht, dass Denken und Erfahrung Hand in Hand gehen, dass eine Erfahrung ohne Den- ken unmöglich ist. Sie nelımen an, dass das Denken die Entwicklung der Wirklichkeit aus dem eigenen Bewusstsein zu bedeuten hat, dass es nur mit selbstgemachten, der Wirklichkeit vollkommen frem- den Begriffen arbeitet.! Indem sich die Pragmatisten auf einen Standpunkt stellen, der das Denken verabscheut und der Praxis huldigt, nehmen sie, wie Rieut bemerkt ?, eine »vorwissenschaft-
ı Siehe Dewey, The Influence of Darwin, S. 172 f. 2 Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Berlin 1919, S. 212 f.
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liche, vor-Thalesische Anschauung an. Sie hätten recht, wenn es ihnen nur darauf ankäme, Erkenntnis und Wissenschaft dem Leben zu nähern. Aber sie vergessen, dass Erkennen und Denken auch zum Leben gehören, dass sie eine der höchsten Seiten des geistigen Lebens bildet, die ihre eigenen Gesetze befolgt, und die durch nichts anderes ersetzt werden kann. Schon ARISTOTELES hat betont, dass der Natur des Menschen ein selbständiges Streben nach Erkenntnis, ohne irgendwelche Nebenmotive, innewohnt. Diesen reinen »Erkennt- nistrieb», welcher der Philosophie und allen reinen Wissenschaften überhaupt zugrundeliegt, lassen die Pragmatisten vollkommen ausser Acht und kommen auf diese Weise auf ihre Lehre von der Verifika- tion als Kriterium der Wahrheit, eine Auffassung, die durchaus un- haltbar ist. Deshalb haben wir nach anderen Kriterien zu suchen.
Die Denknotwendigkeit.
RicKERT geht bei der Darstellung seines Wahrheitskriteriums zweifellos von einer richtigen Voraussetzung aus, wenn er der Mei- nung ist, dassunser Urteilen notwendigerweise vorsichgeht. Wir können beim Urteilen den Zwang feststellen, auf bestimmte Weise zu denken. Doch hat RickeErT den wirklichen Sachverhalt verkannt, indem er zu seiner Erklärung das abstrakte transzendente Sollen dargestellt hat, das selber der Erklärung bedarf, ohne etwas anderes erklären zu können. Ausserdem Ist das transzendente Sollen eine nutzlose Annahme. Die Notwendigkeit, der wir bei unserem Urteilen be- geenen,kann nicht durch andere Begriffe begründet werden. Sie selber enthält ihre eigene Gewissheit. Die Denknotwendigkeit ist ihr eigenes Kriterium, das nicht mehr mit Hilfe anderer Kri- terien bestätigt werden kann. Auf richtige Weise aufgefasst, enthält. sie auch das letzte Kriterium der Wahrheit.
Die Denknotwendiekeit ist allerdings selber ein vielseitiges Problem, das auf verschiedene Art ausgelegt werden kann. Als solche bedarf sie einer eingehenden Analyse, damit ihr Charakter und ihre Bedeutung bei der Erkenntnis und als Kriterium der Wahrheit klargelegt werden können.
B XXHL, | Das Problem der Wahrheit. 109
Für das Denknotwendige hat man sichere Kriterien aufstellen wollen, um es mit deren Hilfe erkennen und auf diese Weise die Wahrheit vom Irrtum unterscheiden zu können. SpENcER ! stellt als einsolches de Unmöglichkeit des Gegensatzes dar. Hiernach ist alles das denknotwendig, dessen Gegensatz als unmöglich anzusehen ist. Da wir z.B. nicht begreifen können, dass ein Teil ebenso gross oder grösser als das Ganze wäre, ist mit Denk- notwendigkeit zu denken, dass ein Teil kleiner als das Ganze ist. Andere Beispiele für eine solche Unmöglichkeit des Gegensatzes sind folgende: unmöglich ist anzunehmen, dass ein Ding sein eigenes Selbst und noch etwas anderes wäre, dass das Bewusstsein gegen seine eigene Natur handeln würde usw. Wenn etwas unmög- lich zu begreifen ist, ist sein Gegenteil als denknotwendig anzusehen.
Doch bei näherer Betrachtung ist dieses Kriterium der Denk- notwendigkeit kein logisches, sondern ein psychologisches Krite- rium, wie auch die Evidenz, und als solches ist sie nicht mehr unbedingt sicher. Die Unmöglichkeit, das Gegenteil aufzufassen, ist nicht bei allen Individuen dieselbe. Oft sind auch Dinge als denkunmöglich angesehen worden, die später andere Individuen als denknotwendig aufgefasst haben. Was heute unmöglich ist, kann morgen möglich sein. Es hat eine Zeit gegeben, als man beispielsweise für unmöglich hielt, dass ein Ding seine Be- wegung fortsetzen könnte, nachdem keine äussere Kraft mehr darauf wirkt. Ebenso der Umstand, dass ein Teil ebenso gross wie das Ganze wäre, ist keine Denkunmöglichkeit, wenn es sich um unendliche Grössen handelt. Auch ist es keine Denkunmöglich- keit mehr, dass man durch einen Punkt mehr als eine mit einer gegebenen Geraden gleichgerichtete Gerade ziehen kann. Somit gibt es Dinge, die früher denkunmöglich waren, es aber nicht mehr sind. Die Unmöglichkeit des Begreifens des Gegensatzes kann also kein unbedingtes logisches Kriterium der Denknot- wendigkeit sein.
! The Principles of Psychology, 5. ed., $ 420. — \gl. auch VOLKELT, Gewissheit und Wahrheit, S. 225.
110 IE Sao BXNXIIL:
In enzeem Zusammenhang mit diesem Kriterium steht ein and«- res, das man die Unmöglichkeit der Verneinung nennen könnte. Hiernach ist das denknotwendig, was nicht verneint werden kann, oder dessen Verneinung schon die Existenz des Verneinten voraussetzt und somit sich selber aufhebt. Dieses Kri- terium liegt der reductio ad absurdum zuzrunde, die in allen Wissen- schaften angewandt wird. Sie führt auch auf die Ablehnung selbstwi- dersprechender Begriffe und Urteile. Auf Grund dieses Kriteriums erweist sich z.B. das Urteil: »Es gibt keine Urteile» als unmöglich, da es selber ein Urteil ist. Oben habe ich beispielsweise dasselbe Kriterium benutzt, als ich die Unmöglichkeit des Urteils »Es gibt keine Wahrheit» nachgewiesen habe, da das Verneinen der Wähır- heit schon selber eine Wahrheit voraussetzt. Kurz gesagt, dieses Kriterium lässt sich überall da anwenden, wo das Vernemen irgendeiner Sache schon dieselbe Sache voraussetzt, wobei es also seine eigene Unmöglichkeit beweist und von der Wahrheit des bejahenden Urteils überzeugt.
Dieses Kriterium hat Royce unter dem Namen des »absoluten Pragmatismu» entwickelt, den er von dem Pragmatismus, von dem oben die Rede war, scharf unterscheidet. Nach Royce gibt es Wahrheiten, die wir zwar nicht auf Grund ihrer erfolgreichen Tätigkeit als Wahrheiten kennen, sondern deren Gültigkeit sıch dadurch erweist, dass sie durch ihre Verneinung schon gleichzeitig vorausgesetzt und angewandt werden."
Die Unmöglichkeit der Verneinung oder das Kriterium. des absoluten Pragmatismus ist ein rein logisches Kriterium, das keiner anderen Kriterien zu seiner Bestätigung bedarf. Es ist auch sein eigenes Kriterium, so dass seine eigene Verneinung nicht möglich ist. Hinsichtlich dieses Kriteriums gibt es keine Ausnahme. Doch ist sein Betätigungsfeld verhältnismässig klein, so dass es bei weitem nicht auf alle Urteile angewandt werden kann. Urteile ı J. Royce, Prinzipien der Logik, Encyclopädie der philosophischen Wis- senschaften ], Tübingen 1912, S. 122 f.
BXXIIL:ı Das Problem der Wahrheit. 11
wie z.B. »5 +7 =12, »Das Eisen ist ein schwererer Stoff als Holz» usw. sind nicht mit Hilfe dieses Kriteriums zu bestätigen. Es umfasst nicht das ganze Gebiet der Denknotwendigkeit, und als solches kann es nicht als ihr erschöpfendes Kriterium angesehen werden.
Um dahinterzukommen, was die Denknotwendigkeit ist, kom- men wir auf die Erörterung der Frage, was die allgemeinen’D en k- gesetze sind. Denn die Denknotwendigkeit kann auch als Befolgen der allgemeinen Denkgesetze definiert werden. |
In der Geschichte der Philosophie stösst man oft auf die Auf- fassung, dass die Denknotwendigkeit einzig und allein in den Ge- setzen der IdentitätunddesWiderspruchs hervortritt. wobei oft obendrein das eine aus dem anderen abgeleitet wird. Nur dort, wo das Denken die Gesetze der Identität und des Wider- spruchs befolgt, erreicht es nach dieser Auffassung die Wahrheit.
Schon PARMENIDES sah im Identitätsgesetz den Zentralnerv allen Denkens, doch erst LEısniz hat daraus das Grundgesetz der Logik gebildet. Leısnız hat in seinem »Entwurf der Logik» alle Urteile auf Identitätsurteile zurückgeführt. Die Axiome, Definitio- nen, Postulate und »ursprünglichen Prinzipien» sind »identische Aussagen», deren Gegensatz einen Widerspruch enthält. Der Identitätsbegriff ist bei ihm das letzte Kriterium der »Vernunft- wahrheiteny. Die Bestätigung dieser Wahrheiten ist dasselbe wie ihre Analyse, die so weit durchzuführen ist, bis man auf iden- tische Aussagen kommt. Wie schon früher bemerkt worden ist, nimmt LEıByız neben den »Vernunftwahrheiten» auch noch »Tat- sachenwahrheiten» an. Inder Welt der Tatsachen oder in der empi- rischen Welt gibt esauch Wahrheiten; aber deren Notwendigkeit ist nicht auf das Denken zurückzuführen. Deshalb sind diese Wahr- heiten nicht logisch notwendig. Alle notwendigen und endgültigen Wahrheiten gründen sich auf das Identitätsgesetz.'
t Philosophische Werke, Philosophische Bibliothek, Leipzig 1903 —, Bd. I, S. 35 f., Bd! Il, S. 443 f.
112 J. E. SıLvowaa. B XXI:
An Lzisxniz bLoten sich im I-zten Jaßrtıir ie Wo. Ieıs- aLzertiesen. SCHELLINGS Iientitärspiioeerßle url Hesse atssluter Meal-mous erürden sich anf das In tz d-r li-rütät. Bi beiden 121 diews petz — ıdaem per Wem — das Gran isetz der L.zk. Das» ]be ist es auch bei LoTzE. der dern das böctkste DL,reuskzes-tz erblickt! Unter den späteren Derkern. weiche die enJzultize Wahrheit auf das Id-nritärsgesetz gründen. »ien noch CoHen und RıcaL erwähnt. Bei CoBEN Ist die sldentität J-r unverbrüchliche Charakter all-s rein (mdäachten. Dieser Wer Ist unz-r-tsrbar und unveräuderliche.® RıeaL dagegen sicht im Identitätsatz das Grundzetz des \ozischen B-weises, ja sozär das Band des kausalen Zusammenhänges.?
Um beurteilen zu können, welche Bedeutung der Identitäts- satz bei der Denknotwendigkeit hat, müssen wir uns klar där- über werden, was diewr Satz entiodlt. Das Gesetz der Identität wird gewöhnlich in der Form: »A=As oder sJedes Ding ist sıch selber gleich» wiederzezeben. Aber der Inhalt dieser Formel des Identitätssatzes ist nicht selber identisch in dem Sinne, dass all» Denker darunter dasselbe verständen. Das Identitätsgesetz wird auf schr verschiedene Art interpretiert. Während einize der Meı- nung sind, dass dieser Satz etwas über die Wirklichkeit selber und ihren Charakter zum Ausdruck bringt. halten andere ihn hinsicht- lich der Wirklichkeit für leer und tautologisch. Ja, es hat sogar insofern Inetaphvsische Bedeutung erlanet, als man das Wesen des Seienden im mit sich selbst Identischen, also im Un- veränderlichen und der Mannigfaltirkeit Entgegengesetzten gese- h*n hat.
Die Aussage »A=A» gehört zu denjenigen, die als selbstver- ständlich angesehen, werden müssen. Hierin kann man so weit Erlen, dass man mit LoTZE Folgendes zugeben kann: »Wie es
I Logik, S. 583, 606 f., u.a.
2 Logik der reinen Erkenntnis, S. 221.
? Zur Einfuhrung in die Philosophie der Gegenwart, ii 125.
* Logik, 5. 606.
"BAXXIILı Das Problem der Wahrheit. 4113
aber zugehe, wie es gemacht werde, oder aus welchem inwendigen Zusammenhange es folge, dass A sich selber gleich sei, wissen wir weder, noch wird Jemand glauben, dass eine solche Frage über- haupt noch Sinn habe.» Doch wie es auch mit dieser Frage stehen mag, ist es jedenfalls ein wichtiges Problem, ob der Identitätssatz etwas über das Wesen der Gegenstände selber aussagt. Die Ant- wort auf diese Frage wird erleichtert, wenn wir uns vorzustellen versuchen, ob eine Wirklichkeit möglich ist, in welcher das Gesetz der Identität nicht gilt. Wenn dies nicht der Fall ist, wenn man nicht einmal eine Wirklichkeit denken kann, für die das Gesetz der Identität keine Gültigkeit hätte, ist dieses Gesetz ein leerer und tautologischer ‚Satz. Subjekt und Prädikat würden in ihr unbedingt zusammenfallen, indem beide dieselbe Sache zu be-
deuten hätten. | Ich gehe hier nicht auf den metaphysischen Identitätsbe- griff ein. Diesen kann ich mit umso gewichtigerem Grunde bei- seitelassen, als die Identität nicht notwendigerweise mit dem Metaphysischen verbunden ist. Man kann sich wenigstens hypo- thetisch denken, dass sich auch die metaphysische Wirklichkeit in einem Zustande beständigen Fliessens und Veränderns befindet, ohne auch nur einen Augenblick zu verharren. Die Philosophien HERAKLITS und BerGsons sind hierfür gute Beispiele. Für die von ihnen gelehrte metaphysische Wirklichkeit trifft das Gesetz der Identität nicht zu. Aber auch für die Sinnenwelt hat es keine Geltung. Sie kennt nichts unbedingt Identisches. Die Erfahrung kennt nur mehr oder weniger offensichtliche Annäherungen an die Identität. Bei ihr kann nur von Übereinstimmung und Ähn- lichkeit, aber nicht von unbedingt Identischem die Rede sein. Das einzige Bereich der Wirklichkeit, für das die Identität voll- kommen zutrifft, ist das Bereich des Wesens oder der Geltung. Hier ist die Identität der Ausdruck des Bestehens, das für das Bereich des Wesens charakteristisch ist. Aber hierbei ist von der Identität zu sagen, dass sie leer und tautologisch ist. Durch sie kann unsere Erkenntnis nicht bereichert werden. Denn durch 8
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Urteile wie »Ein Hund ist ein Hund», »Ein Dreieck ist ein Dreicck» nimmt unsere Erkenntnis nicht zu.
Diese Beispiele schon zeigen, dass die absolute Identität nicht die Grundlage des Urteils sein kann. Sie kann nicht die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat im Urteil bestimmen. Der Identi- tätssatz betrifft streng genommen nur Begriffe, Bedeutungen oder, mit einem Wort gesagt, Beziehungsganze und nicht Beziehungen, wie sie die Urteile repräsentieren. Als solche kann die absolute Identität kein wahrheitsbestimmender Faktor sein, wenngleich sie eine Bedingung ihrer Erkenntnis ist. Diese Identität ist ein Ausdruck jener Beständigkeit und Gleichheit mit sich selber, die von den Begriffen verlangt wird, damit diese in den Urteilen angewandt werden können; aber sie bestimmt nicht die Beziehung dieser Begriffe zueinander.
Ausser dem Begriff der absoluten Identität benutzt man noch für die Wirklichkeit eine andere Identität, die nicht absolut ist, und die in Bezug auf die Wirklichkeit nicht vollkommen zu- trifft. Eine solche Identität kann auch in Urteilen auftreten und die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat bestimmen. Wenn man nur den Begriff der absoluten Identität anwenden würde, müssten alle Urteile folgende Form erhalten: »4 ist 4» oder »4A ist nıcht-B», aber niemals die Form »4 ist B». Das Urteil »A ist B» kann niemals etwas zum Ausdruck bringen, was mit mit dem Gesetz der absoluten Identität vollkommen in Einklang steht. Ebenso wie unsere ganze Urteilstätigkeit hinsichtlich ihrer Glieder Identität voraussetzt, gründet sie sich auf das Umgehen absoluter Identität, wenn es sich um die Beziehung ihrer Glieder zueinander handelt. Das Erkennen möchte Unterscheidungen und Veränderungen herausstellen. Es strebt danach, Verschiedenes zu verbinden, was das Aufwerfen wissenschaftlicher Probleme und ihre Lösung ermöglicht.
Das Gesetz der Identität, die nicht absolut ist, hat im logischen Denken eine wichtige Bedeutung. Sein Gebrauch ist, wie auch
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HÖFFDINnG betont!, die Voraussetzung für zwei zentrale Denk- funktionen, nämlich für die Klassifizierung und für den Beweis. Ohne Identität würden wir einem vollkommenen Chaos verfallen. Auch das Chaos hat eine Bedeutung, und es ist als Gegenteil ‘der Identität aufzufassen. Vor allen Dingen aber setzt die Klassi- fizierung die Identität voraus. So setzt z.B. die Aussage »Das Pferd ist ein Säugetiew, d.h. »Alle Pferde sind Säugetiere» Identität voraus. Diese Aussage schliesst nämlich ein, dass es die Klassen der Säugetiere und der Pferde gibt. In beiden Fällen tritt das Prinzip der Identität auf. Aber es bedeutet nicht absolute Identität, sondern gestattet verhältnismässig grosse individuelle Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Individuen beider Klassen. Deshalb kann diese Identität entweder als möglichst grosse Ähnlichkeit oder als möglichst geringe Verschiedenheit definiert werden. Ihr Gegenteil, das Chaos, hingegen kann als möglichst geringe Ähnlichkeit oder als möglichst grosse Verschie- denheit definiert werden. Diejenigen Wissenschaften, die sich mit der Klassifizierung begnügen, halten es für ihre Aufgabe, identische Gruppen, Klassen, aufzustellen, und als solche gründen sie sich vor allen Dingen auf das Gesetz der Identität.
Solange sich das Erkennen mit der Klassifizierung zufrieden- gibt, versucht es nur einen geordneten Überblick über irgendein bestimmtes Gebiet zu geben. Doch ist die Identität auch noch eine Voraussetzung für das logische Schliessen und als solche ein Hilfs- mittel bei der Erreichung neuer Wahrheiten. Denn die Prämissen müssen, damit aus ihnen ein Schluss gezogen werden kann, beide identische Begriffe enthalten.
Bevor ich dazu übergehe, die Stellung des Gesetzes der Identi- tät im logischen Denken und seine Beziehung zu anderen Denk- gesetzen noch näher zu bestimmen, möchte ich auch auf das Ge- setz des Widerspruchs einen Blick werfen. ARISTOTELES hat dieses Gesetz als höchstes Denkgesetz angesehen, und zahlreiche
ı Der Relationsbegriff, S. 30.
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spätere Denker haben sich ihm hierin angeschlossen. Besonders E. v. Hartmann hat nachzuweisen versucht, dass das Gesetz des Widerspruchs das Grundgesetz des logischen Denkens ist, und dass die übrigen Denkgesetze, das der Identität, des ausgeschlos- senen Dritten und des zureichenden Grundes auf das Gesetz des Widerspruchs zurückgeführt werden können.! Die Denknotwendig- keit ist nach HARTMANN nur formal und als solche nur vom Gesetz des Widerspruchs bestimmt. Das Logische kennt nur eine Norm: »Widerspruch darf nicht sein». Darin liegt kein inhaltliches Prinzip.
Hinsichtlich der Auffassung vom Wesen des Gesetzes des Wi- derspruchs herrscht eine ähnliche Verwirrung wie über das Gesetz der Identität, was schon aus den verschiedenartigen Formeln her- vorgeht, in welche sein Inhalt eingekleidet worden ist. Die gewöhn- lichste Form, durch welche das Gesetz des Widerspruchs zum Ausdruck gebracht wird, ist, dass die Aussagen »4 ist» und »4A ist nicht» nicht gleichzeitig gültig sein können, oder dass »ein Ding nicht gleichzeitig sein und nicht sein kann». Ebenso verwendet man die Formel: »4 ist B und nicht-B». ARISTOTELES erläutert den Inhalt dieses Satzes folgendermassen: »Es ist un- möglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme.»2 Anders gesagt: die Aussagen »4A ist B» und »4 ist nicht-B» können nicht zugleich wahr sein. Wer